Stimme der Hilflosen

Abie Nathan war ein Exzentriker, ein Selbstdarsteller und vielleicht der bekannteste Friedensaktivist Israels. 1927 im damals persischen Abadan geboren und im indischen Bombay aufgewachsen, wurde er 1944 Pilot der britischen Luftwaffe. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs kämpfte er 1948 als Freiwilliger für die Unabhängigkeit Israels und siedelte sich in Tel Aviv an. Im ganzen Land berühmt wurde er, als er 1965 mit einem auf den Namen »Schalom 1« (Frieden 1) getauften Flugzeug nach Ägypten flog, das sich damals im Kriegszustand mit Israel befand. Zurück in Israel wurde er vor­übergehend festgenommen, aber gegen Kaution wieder auf freien Fuß gesetzt.

Der Kampf um den Frieden wurde zu seinem Lebensinhalt. Nathan traf sich, obwohl dies streng verboten war, mit den Anführern der palästinensischen Befreiungsbewegung. Anfang der 70er Jahre erwarb er in New York ein Schiff. Mit Unterstützung unter anderem von John Lennon rüstete er es aus und ließ die »MV Peace« schließlich gut drei Meilen vor dem Hafen von Tel Aviv vor Anker gehen. Das war die Geburtsstunde der Voice of Peace (Stimme des Friedens), die ab 1973 zwanzig Jahre lang auf UKW 100,0 MHz und Mittelwelle 1540 kHz zu hören war.

»Auch dies war wieder ein typisches Unternehmen von Abie«, erinnerte sich der mittlerweile ebenfalls verstorbene israelische Publizist Uri Avnery, der Nathan in den 50er Jahren kennengelernt hatte. »Es gab keine Redaktionsmannschaft, kein klares politisches oder Bildungsprogramm. Die Stimme des Friedens war Abie, und Abie war ›die Stimme des Friedens‹. Eine große, junge Zuhörerschaft hörte regelmäßig die exzellente Musik dieser Station, und nebenbei nahm sie Abies Predigten auf Englisch oder in elementarem Hebräisch mit englischem Akzent auf. (…) Seine Stimme war jedem Israeli vertraut.« Nathan protestierte gegen den Krieg in Vietnam und gegen den Bau von Siedlungen in den besetzten Gebieten.

Der Sender meldete sich zwei Jahrzehnte lang rund um die Uhr »von irgendwo aus dem Mittelmeer«. Bis 1993. Nach der Unterzeichnung der Osloer Abkommen zwischen Israelis und Palästinensern hielt Abie Nathan die Aufgabe des Senders für erfüllt. So jedenfalls die offizielle Version. Tatsächlich brachen der Voice of Peace damals die Werbeeinnahmen weg, so dass Mittel zur notwendigen Instandsetzung des Friedensschiffes fehlten. Daraufhin ließ Abie Nathan die »MV Peace« vor der Küste Israels versenken. Er starb am 27. August 2008 im Alter von 81 Jahren in einem Altersheim in Tel Aviv. Auf seinem Grabstein steht das hebräische Wort »Nissiti« – »Ich habe es versucht«.

Nach seinem Tod versammelten sich ehemalige Mitarbeiter der ­Voice of ­Peace und andere Enthusiasten und Unterstützer, um das Unternehmen wiederaufleben zu lassen. Andy Cox, der bei der alten und neuen VoP dabei war, erinnerte sich in einem auf der Homepage des Senders nachzulesenden Interview 2013, dass der Neustart ursprünglich ein Witz gewesen sei. »Aber nach einiger Zeit entschied das Team, dass die Radiowelt das Ganze nicht nur als eine Retro-Tribute-Station ansehen sollte, in der eine Gruppe von Enthusiasten alte Musik spielte und in Erinnerungen schwelgte.« Das ganze Projekt, das Originalkonzept sollte es sein. Einschließlich der Friedensbotschaft Abie Nathans: »Wir sehen uns gerne als so etwas wie die Schweiz, bereit diejenigen auf jeder Seite zu unterstützen, die nur aufgrund der Tatsache, wo sie geboren wurden, von Gewalt betroffen sind.«

Die alten Ansagen sind geblieben, doch von einem Schiff sendet man heute nicht mehr. Statt dessen ist die Voice of Peace rund um die Uhr im Internet zu hören, inzwischen sogar mit zwei ­parallelen Programmen. Und eine Stunde am Tag sendet man in Tel Aviv auch wieder auf der alten UKW-Frequenz 100,0 MHz, als Gast bei Radius 100 FM.

Erschienen am 8. August 2019 in der Tageszeitung junge Welt