Piraten in der Nordsee

Der August 1989 war heiß. Nicht nur, weil die Temperaturen bei 30 Grad lagen, sondern vor allem aufgrund der politischen Großwetterlage. Am 19. August 1989 beauftragte Polens Präsident Wojciech Jaruzelski den oppositionellen Aktivisten Tadeusz Mazowiecki mit der Regierungsbildung. Ebenfalls am 19. August 1989 führte eine Provokation an der österreichisch-ungarischen Grenze zur »Massenflucht« von mehreren hundert DDR-Bürgern durch die vorübergehend geöffneten Sperranlagen.

Ein anderes Ereignis dieser Tage ging in der deutschsprachigen Presse unter. In den Mittagsstunden des 19. August 1989 enterten niederländische Beamte in Begleitung britischer Kollegen in internationalen Gewässern die unter der Flagge Panamas fahrende »Ross Revenge«, von der aus Rundfunkprogramme in englischer und niederländischer Sprache gesendet wurden. Gegen Mittag vernahmen die Hörer auf Mittelwelle 558 kHz den Hilferuf der Crew: »Hier ist Radio Caroline, das in internationalen Gewässern der Nordsee ankernde Radioschiff Ross Revenge. Dieses panamaisches Schiff wird gerade illegal durch die niederländische und britische Regierung geentert. Sie sind bereits an Bord, es wurde Gewalt gegen Crewmitglieder angewandt.«

Rund 40 bewaffnete Polizisten und weitere Beamte aus den Niederlanden hatten das Schiff gekapert, während die britische Handelsbehörde DTI die Geschehnisse von einem weiteren Boot aus beobachtete. Als ein Bordingenieur versuchte, die Eindringlinge aufzuhalten, wurde ihm ins Gesicht geschlagen. Da­raufhin schlossen sich einige der jungen Moderatoren in den Studios ein, um das Programm möglichst lange aufrechtzuerhalten und die Hörer über die Ereignisse zu informieren. Erst nach rund einer Stunde gelang es den Beamten, den Sender zum Schweigen zu bringen. Was nicht abtransportiert werden konnte, wurde zerstört, vor allem die Sendeanlagen. Erst nachträglich legalisierte die britische Regierung den Akt der Piraterie. 1990 wurde im Unterhaus eine Gesetzesänderung verabschiedet, die das Kapern eines Schiffes auch in internationalen Gewässern erlaubte, wenn der Verdacht bestehe, dass sich an Bord Sendeanlagen befinden. Sie ist bis heute in Kraft.

Die Geschichte von Radio Caroline reicht zurück bis Mitte der 60er Jahre. In dieser Zeit hatte in Großbritannien die BBC das Rundfunkmonopol – Rockmusik fand in deren Programmen kaum statt. Junge Hörer schalteten oft um auf Radio Luxemburg, das auch aktuelle englischsprachige Hits spielte. Doch dieser Sender hatte sich an die großen internationalen Plattenlabels verkauft, neue und unabhängige Interpreten fanden dort keinen Platz. Deshalb entschied der Musikproduzent Ronan O’Rahilly, für die Bands seines Labels eine eigene Rundfunkstation zu starten. Seine Vorbilder waren Radio Mercur in Dänemark und Radio Veronica in den Niederlanden. Beide hatten schon Ende der 50er Jahre begonnen, von Schiffen aus zu senden, die in internationalen Gewässern ankerten und damit dem Zugriff der Landesbehörden entzogen waren. O’Rahilly erwarb eine alte dänische Fähre, die »Fredericia«, und Ostern 1964 ging Radio Caroline auf Sendung.

Radio Caroline war der erste einer ganzen Reihe von Sendern, die in dieser Zeit von der Nordsee aus Großbritannien beschallten – und der langlebigste. Denn die »goldene Zeit« der Seesender endete 1967, als das britische Parlament per Gesetz jede Unterstützung der »Piraten« untersagte. Damit konnten Unternehmen von der Insel keine Werbung mehr schalten, den Sendern brach ihre wichtigste Einnahmequelle weg. Am 14. August 1967 stellten die Piratensender ihre Programme ein, nur eine Station nicht: Am 15. August um Mitternacht spielte Radio Caroline den Protestsong »We Shall Overcome« – und sendete weiter. Auch der Überfall im August 1989 bedeutete nicht das Ende: Die Mannschaft blieb auf dem zertrümmerten Schiff, und dank der Solidarität einer treuen Hörerschar konnte neue Technik beschafft werden. Am 1. Oktober 1989 war Caroline wieder on air. Aber die Zeit der Piratensender auf hoher See ging zu Ende. Als die »Ross Revenge« 1991 in einem Sturm ihren Anker verlor und auf eine Sandbank trieb, war der Piratensender tot.

Doch Totgesagte leben länger. Caroline ist auch heute noch zu hören, aber inzwischen als legale kommerzielle Radiostation. Neben drei Programmen im Internet ist man seit Ende 2017 auch wieder auf Mittelwelle zu empfangen: Nach mehr als einem halben Jahrhundert erhielt Caroline eine Lizenz der britischen Behörden für die Frequenz 648 kHz über den Sender Orfordness im Südosten Englands.

Erschienen am 15. August 2019 in der Tageszeitung junge Welt