Zwischenrufe gegen Hitler

Silvester 1944. Im deutschen Rundfunk hält Hitler seine Neujahrsansprache und ruft zum Durchhalten auf. Plötzlich gibt es einen Zwischenruf: »Das Jahr 1945 muss das Ende der Hitler-Diktatur sein!« Und wenig später, mitten in das zum Abschluss der Rede gespielte »Deutschlandlied« hinein, die Parole »Weg mit Hitler und seiner Bande!«

Vor allem im Osten und im Norden Deutschlands konnten diese Zwischenrufe seit Mitte 1941 immer wieder gehört werden. Sie stammten von deutschen Emigranten in der Sowjetunion, die aus den Studios von Radio Moskau die Lügen der Faschisten kommentierten. Sowjetische Sender wurden dazu kurzzeitig mit hoher Sendestärke auf die Frequenzen der Naziprogramme geschaltet, und in den kurzen Pausen zwischen zwei Sätzen kommentierten die Sprecher das soeben gehörte: »Alles Lüge! Von hinten bis vorne gelogen!« »Stalingrad, Massengrab!«

Die Idee zu den »Geisterstimmen« stammte von österreichischen Kommunisten. Das Ziel war, unter den deutschen Radiohörern für Unruhe zu sorgen: Waren die Russen schon so weit vorgerückt, dass sie bereits im deutschen Rundfunk zu hören waren? Zudem brachten die Einblendungen die Nazibehörden ins Schwitzen, denn Störsender waren hier wirkungslos – man hätte ja die eigenen Programme unhörbar gemacht.

Die Geschichte der »Geisterstimmen« ist eine der zahlreichen Episoden, die Hans Sarkowicz für seine fast zehnstündige Dokumentation »Geheime Sender. Der Rundfunk im Widerstand gegen Hitler« zusammengetragen hat. Am Dienstag erhielt er dafür in Köln den Deutschen Hörbuchpreis in der Kategorie »Bestes Sachhörbuch«. Die ursprünglich als Featurereihe von HR 2 Kultur konzipierte Darstellung eines besonderen Kapitels des antifaschistischen Kampfes ist im vergangenen Herbst als Box mit acht CDs im Hörverlag erschienen. Sie gliedern sich in die deutschsprachigen Sendungen der BBC London, von Radio Moskau und der Stimme Amerikas, Programme von Emigranten in Europa und den USA sowie die »schwarze« Rundfunkpropaganda der Alliierten, unter »falscher Flagge« arbeitende Tarnprogramme, die sich zum Beispiel als Wehrmachtssender oder Stimmen oppositioneller Gruppen innerhalb Deutschlands ausgaben.

Sarkowicz ist es mit Hilfe des Deutschen Rundfunkarchivs gelungen, unzählige Aufnahmen aus der Zeit des Krieges zusammenzutragen. Wie er selbst anmerkt, war die Quellenlage dafür in den ersten Jahrzehnten nach dem Krieg nicht gut. In Deutschland selbst hatte natürlich kaum jemand gewagt, das Gehörte aufzuzeichnen, hatten die Nazis das Abhören von »Feindsendern« doch unter Strafe gestellt. Das Weiterverbreiten so empfangener Nachrichten wurde während des Krieges sogar mit dem Tode bestraft. Die Archivare der Nachkriegszeit waren also auf die Mitschnitte von Hörern und staatlichen Stellen in den neutralen Ländern, zum Beispiel in Schweden, angewiesen. Doch einen Mitschnitt anzufertigen, war damals mit einigem materiellen und finanziellen Aufwand verbunden. Selbst die Rundfunksender selbst verzichteten deshalb oft auf das Archivieren ihrer Programme.

Ein Opfer dieser Verluste ist Thomas Mann. Der Schriftsteller war 1933 in die Schweiz und 1939 in die USA emigriert. Von dort aus wandte er sich über die BBC an die »deutschen Hörer«. Nach einer ersten Phase, in der Mann nur die Texte schrieb und sie dann von einem Sprecher in London verlesen ließ, sprach der Autor seine Botschaften bald selbst in den Vereinigten Staaten auf Schallplatte. Von den 51 Ansprachen, die Mann selbst gesprochen hat, sind heute jedoch nur elf erhalten.

Die Stärke der Dokumentation von Hans Sarkowicz ist, dass sie trotz solcher Einschränkungen aus dem Blickwinkel des Rundfunks einen umfassenden Überblick über praktisch die gesamte Zeit der faschistischen Diktatur in Deutschland gibt, angefangen 1934 mit den Sendungen der »Schwarzen Front« Otto Strassers aus Prag und des Deutschen Freiheitssenders 29,8 aus Spanien ab 1937 bis zu den angeblichen deutschen Soldatensendern, die während des Krieges von England aus für Verwirrung sorgten.

Sarkowicz gelingt es in beeindruckender Weise, die Tondokumente für sich sprechen zu lassen. So klingen die Aufnahmen von Radio Moskau aus der Zeit des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspaktes heute verstörend, insbesondere die Rechtfertigung des deutschen Überfalls auf Norwegen 1940. Das hindert Sarkowicz aber nicht daran, allein zwei CDs den antifaschistischen Programmen aus der Sowjetunion zu widmen, unter anderem dem von der KPD betriebenen Deutschen Volkssender. Genau diese Sachlichkeit findet man heutzutage selten.

Hans Sarkowicz: Geheime Sender. Der Rundfunk im Widerstand gegen Hitler. Hörbuch, acht CDs, Laufzeit: 582 Minuten. Der Hörverlag 2016, 35 Euro

Erschienen am 9. März 2017 in der Tageszeitung junge Welt