Schlacht um Miraflores

Vor 20 Jahren stürzten reaktionäre Militärs Venezuelas Präsidenten Hugo Chávez. Die Putschisten wurden innerhalb von 48 Stunden besiegt

Mit dem Namen Hugo Chávez verbindet sich in Venezuela und Lateinamerika ein hoffnungsvoller Aufbruch, mit dem unter dem Namen »Bolivarische Revolution« ein radikaler Wandel angestrebt wurde. Nach Jahrzehnten kapitalistischer Ausbeutung und neokolonialer Abhängigkeit initiierte Chávez nach seiner Wahl im Dezember 1998 einen Reformprozess, der die Reichtümer des Landes den bisher ausgegrenzten Massen zukommen lassen wollte. Eine neue Verfassung wurde ausgearbeitet und Ende 1999 mit überwältigender Mehrheit in einer Volksabstimmung verabschiedet. In ihr wurden unter anderem jede Privatisierung des staatlichen Erdölkonzerns PDVSA verboten und jede Einrichtung ausländischer Stützpunkte auf dem eigenen Staatsgebiet ausgeschlossen.

Staatsstreich

Schon am 4. Februar 1992 hatte der Oberstleutnant Hugo Chávez an der Spitze der »Revolutionären Bolivarischen Bewegung« (MBR-200) versucht, den damaligen Staatschef Carlos Andrés Pérez zu stürzen. Der Aufstand scheiterte, doch ein kurzer Fernsehauftritt des Comandante machte ihn in der Bevölkerung populär. Im Wahlkampf 1998 wurde er von einem sehr breiten Spektrum politischer Kräfte unterstützt, das von der Kommunistischen Partei bis hin zu reaktionären Rechten reichte. Auch Teile der Oberschicht und die von ihnen kontrollierten Massenmedien setzten zunächst auf die »Bestie«, die man schon »zähmen« werde, wie damals in einer Kolumne geschrieben wurde. Die Geschichte Lateinamerikas kennt viele solcher Populisten, die mit radikalen Floskeln die Unzufriedenheit der Bevölkerung in für die Herrschenden ungefährliche Bahnen lenken.

Chávez allerdings gehörte nicht zu diesen Populisten. Er meinte es mit der Neugründung der Republik und der Umverteilung des Reichtums durchaus ernst. Dabei bewegte er sich zunächst nicht außerhalb der Grenzen sozialdemokratischer Reformpolitik. In einem Interview 1998 nannte er US-Präsident William Clinton und den britischen Premier Anthony Blair mit ihrem damals propagierten »dritten Weg« Vorbilder. Doch spätestens ab 2001 begann Chávez, neben politischen auch ökonomische Veränderungen in Angriff zu nehmen, und stellte sich damit gegen die führenden Wirtschaftskreise Venezuelas und der USA. Die privaten Massenmedien entfesselten eine zügellose Hetze gegen den Staatschef, und der Unternehmerverband Fedecámaras verbündete sich mit dem korrupten sozialdemokratischen Gewerkschaftsbund CTV. Im April 2002 riefen Fedecámaras, CTV, Oppositionsparteien und praktisch alle Massenmedien zu einem unbefristeten Generalstreik für den Sturz des Präsidenten auf.

»Die Entscheidungsschlacht findet am Präsidentenpalast Miraflores statt«, verkündete eine Sonderausgabe der rechtsgerichteten Tageszeitung El Nacional am 11. April 2002 mit Blick auf die für diesen Tag organisierte Großdemonstration der Regierungsgegner. Diese sollte offiziell zum Sitz des Erdölkonzerns PDVSA führen, dessen Spitze Chávez kurz zuvor abgesetzt hatte. Doch während des Marsches wurde plötzlich die Orientierung ausgegeben, zum Sitz der Regierung zu ziehen. »Jetzt holen wir Chávez raus!« skandierten aufgepeitschte Oppositionelle. Doch im Umfeld von Miraflores hatten sich zu diesem Zeitpunkt bereits Tausende Anhänger des Präsidenten versammelt, um ein Vordringen der Rechten zu verhindern.

Anhänger beider Seiten wurden Opfer einer makabren Inszenierung, mit der die Rechtfertigung für den folgenden Staatsstreich geliefert wurde. Heckenschützen hatten sich auf den Hochhäusern im Zentrum der Stadt postiert, und als die Demonstrationszüge von Oppositionellen und Regierungsanhängern nur noch wenige hundert Meter voneinander entfernt waren, fielen Schüsse. Die Zahl der dabei getöteten Menschen wird inzwischen auf 19 beziffert, die meisten von ihnen waren Unterstützer des Präsidenten. Die privaten Fernsehsender behaupteten jedoch sofort, Chávez habe auf unbewaffnete Oppositionelle schießen lassen.

Führende Militärs kündigten dem Präsidenten die Gefolgschaft auf und forderten seinen Rücktritt. Einheiten der Streitkräfte umstellten Miraflores. Die Generäle drohten, den Palast zu bombardieren. Um ein Blutbad zu verhindern, begab sich Chávez in die Hände der Militärs, die ihn an einen zunächst unbekannten Ort verschleppten. Doch einen Rücktritt unterzeichnete er nicht. Unter Bruch der Verfassung übernahm eine Junta aus Militärs und Oligarchen die Herrschaft, zum »Übergangspräsidenten« wurde der Chef des Unternehmerverbandes, Pedro Carmona, ernannt. Dieser löste im Handstreich das Parlament, den Obersten Gerichtshof und andere Behörden auf und änderte kurzerhand den Namen des Landes, indem er das Wort »bolivarisch« strich.

Widerstand

Doch die Putschisten hatten nicht mit den einfachen Menschen des Landes gerechnet. Die Bevölkerung hatte Mut geschöpft und wollte sich ihren revolutionären Prozess nicht durch die alten Herren rauben lassen. Spontan und ohne sichtbare Führung gingen die Menschen auf die Straße, Tausende versammelten sich vor den Fernsehsendern, an den Militärbasen und vor dem Präsidentenpalast. Am Ende waren es Millionen, während in Maracay die Fallschirmjäger erklärten, das Carmona-Regime nicht anzuerkennen. Diese Rebellion gegen die Rebellion war militärisch entscheidend, denn damit war den Putschisten die Kontrolle über Venezuelas Luftwaffe entzogen. Die Herren, die es sich im Präsidentenpalast bequem gemacht hatten, flohen Hals über Kopf.

Am Abend des 13. April kehrte Chávez per Hubschrauber in den Präsidentenpalast zurück. Das Bild des Staatschefs, der mit erhobener Faust aus dem Helikopter steigt, ging um die Welt. Der Aufstand des Volkes hatte den Staatsstreich innerhalb von 48 Stunden zurückgeschlagen. Die kubanische Tageszeitung Granma würdigte das auf ihre Weise: Venezuela habe den kubanischen Rekord geknackt – in der Schweinebucht haben man 1961 noch 72 Stunden gebraucht, um die Imperialisten zu besiegen.

Auch in den folgenden 20 Jahren ist es der reaktionären Rechten Venezuelas und hinter ihr den USA nicht gelungen, die Regierung von Hugo Chávez bzw. nach dessen Tod 2013 von Nicolás Maduro z9u stürzen. Selbst eine großangelegte Inszenierung 2019 um den »international anerkannten Übergangspräsidenten« Juan Guaidó, durch die ein Staatsstreich oder eine ausländische Intervention provoziert werden sollten, floppte. Und nun könnte sich das Blatt einmal mehr wenden: Nachdem die USA Erdölimporte aus Russland untersagt haben, sucht Washington nach neuen Lieferanten – und plötzlich ist Venezuelas Regierung wieder ein gefragter Gesprächspartner. Anfang März schickte US-Präsident Joseph Biden eine hochrangige Delegation nach Caracas zu Maduro – zum ersten Mal seit dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen 2018.

Erschienen am 9. April 2022 in der Tageszeitung junge Welt