Ein doppelter Feiertag

In diesem Jahr fällt der 1. Mai auf einen Sonntag. Ein doppelter Feiertag. Einerseits der Tag der Arbeit, an dem die Beschäftigten und ihre Gewerkschaften für bessere Arbeits- und Lebensbedingungen auf die Straße gehen. Andererseits der Sonntag, vor mehr als 1700 Jahren für arbeitsfrei erklärt und seither als solcher immer wieder umkämpft und verteidigt.

Wenn an einem solchen Tag die Stadtverwaltungen etwa im baden-württembergischen Nagold oder anderen Gemeinden nichts besseres einfällt, als einen „verkaufsoffenen Sonntag“ anzusetzen, dann beweist das nicht nur „ein Höchstmaß an mangelnder Sensibilität“ – wie es der ver.di-Bezirk Mittelbaden-Nordschwarzwald formuliert – sondern ist schlicht eine Provokation.

Der 1. Mai wurde über Jahrzehnte in teilweise blutigen Auseinandersetzungen als arbeitsfreier Tag erkämpft. Er ist der Tag der Menschen, die nichts anderes haben, als ihre Arbeitskraft. Es ist der Tag, der nicht einem Elon Musk, Jeff Bezos oder Friedrich Merz gehört, sondern Emma und Karl, Fatima und José. An einem solchen Tag die Beschäftigten zwingen zu wollen, für die Profite der Unternehmer am Arbeitsplatz zu erscheinen, ist eine Frechheit.

Zumal, wenn er auch noch ein Sonntag ist. Seit Kaiser Konstantin in einem Edikt am 3. März 321 die Arbeitsruhe am siebten Tag der Woche verfügte, gilt der Sonntag in unserem Kulturkreis als Tag der Ruhe und Erholung. Er ist der Moment, an dem wir innehalten können, Zeit für die Familie haben, vielleicht in die Kirche gehen, einem Hobby nachgehen oder Sport treiben können. Damit ist der Sonntag auch für Menschen wichtig, die keinen religiösen Bezug haben.

Schon 1871 forderten die deutschen Weber nicht nur ein Verbot der Kinderarbeit und die Begrenzung des Arbeitstages auf zehn Stunden, sondern auch die Abschaffung der Sonntagsarbeit. Und August Bebel warnte bereits 1888: „Greift die Gesetzgebung nicht ein und gebietet sie nicht der wilden Konkurrenzjagd und dem Ausbeutungseifer der Unternehmerklassen ein Halt, so wird in kurzer Zeit auch der Sonntag als regelmäßiger siebenter Arbeitstag in der Woche figurieren und die (…) Arbeiter in sieben Tag anstrengender Arbeit nicht mehr verdienen als jetzt in sechs.“

Übrigens: In mehreren europäischen Ländern – zum Beispiel in Großbritannien, Spanien und Polen – werden gesetzliche Feiertage, die auf einen Sonnabend oder Sonntag fallen, am Anfang der folgenden Woche nachgeholt. Anstatt den freien Sonntag immer mehr zu schleifen, sollten wir darüber nachdenken, ob das nicht auch hierzulande ein sinnvoller Weg wäre.

Erschienen am 1. Mai 2022 auf der Homepage der Allianz für den freien Sonntag