Religionsunterricht als »erworbenes Recht«?

Ohne Gegenstimmen hat die venezolanische Nationalversammlung am Donnerstag ein neues Bildungsgesetz verabschiedet, das von der Opposition scharf angegriffen wird. Die Fraktionen der Vereinten Sozialistischen Partei (PSUV), der Kommunistischen Partei (PCV), der Partei Heimatland für alle (PPT) und andere unterstützten das neue Gesetz. Die Vertreter der Oppositionspartei Podemos und der PSUV-Abspaltung Humanistische Volksfront (FPH) verließen unter Protest das Plenum. Sie wollen nun ein Referendum gegen das Gesetz anstreben.

Tausende Menschen verfolgten in der Umgebung des Parlamentsgebäudes im historischen Zentrum von Caracas auf Großleinwänden die nach draußen übertragene Parlamentsdebatte. Bei einem Protestzug der Opposition kam es hingegen zu Ausschreitungen, als Gruppen aus der Demonstration heraus versuchten, die Polizeisperren zu durchbrechen, die Gegner und Unterstützer des neuen Gesetzes voneinander trennten. Polizeisprecher berichteten, daß Steine und Feuerwerkskörper auf die Beamten und in Richtung der linken Demonstration geworfen wurden.

Das neue Gesetz schreibt unter anderem fest, daß der Staat allen Bürgern ein kostenfreies, und weltliches Bildungssystem zu garantieren habe: »Der Staat bewahrt unter allen Umständen seinen weltlichen Charakter im Bereich der Bildung sowie seine Unabhängigkeit gegenüber allen religiösen Strömungen und Einrichtungen«, heißt es in Artikel 6 des Gesetzes. „Die Familien haben das Recht und die Verantwortung für die religiöse Bildung ihrer Söhne und Töchter entsprechend ihrer Überzeugungen und in Übereinstimmung mit der in der Verfassung vorgesehenen Freiheit der Religion und des Kultus.«

Natürlich schmeckt dem venezolanischen Klerus eine solche Regelung überhaupt nicht. Das Erzbistum Caracas fürchtet sogar, daß durch das neue Gesetz den katholischen Privatschulen der Religionsunterricht verboten werden soll, und verbreitet in einer von den Kanzeln verlesenen Erklärung, daß »die Religion seit ewigen Zeiten an den öffentlichen Schulen unterrichtet wurde und einen Teil unserer nationalen Identität bildet«. Der schulische Religionsunterricht sei „ein erworbenes Recht« und dürfe entsprechend Artikel 19 der Verfassung »nicht beseitigt werden«.

Artikel 19 dieser Verfassung, die bei ihrer Verabschiedung vor zehn Jahren von der katholischen Kirche und der gesamten Opposition noch wütend bekämpft worden war, spricht allerdings nicht vom Religionsunterricht. Vielmehr beauftragt er den Staat, „die Menschenrechte aller« zu schützen. In Artikel 59 heißt es dagegen treffender: „Väter und Mütter haben das Recht darauf, daß ihre Söhne und Töchter diejenige religiöse Erziehung erhalten, die mit ihren eigenen Überzeugungen übereinstimmt.« Davon, daß dies in den öffentlichen Schulen erfolgen müsse, ist jedoch nicht die Rede.

Erschienen am 15. August 2009 in der Tageszeitung junge Welt und am 19. August 2009 in der Zeitung vum Lëtzebuerger Vollek