junge Welt, 3. Juni 2023

»Niemand wird vergessen und nichts«

Serie: Klassenkampf im Äther – 100 Jahre Rundfunk in Deutschland. Teil 6: Während der Blockade Leningrads wandte sich der Sender der Stadt auch an die deutschen Soldaten

Die 872 Tage dauernde Blockade der Millionenstadt Leningrad durch die Wehrmacht war eines der großen Verbrechen der deutschen Faschisten im Zweiten Weltkrieg. Im heutigen St. Petersburg, der zweitgrößten Metropole Russlands, lebten damals mehr als drei Millionen Menschen. Als Hafenstadt am Finnischen Meerbusen war sie über Jahrhunderte eine wichtige Handelsmetropole und Standort der russischen bzw. sowjetischen Marine gewesen, galt als »Wiege« der Oktoberrevolution von 1917 und hatte auch 1941 eine wichtige strategische Bedeutung als Tor zur Ostsee.

Schon wenige Wochen nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 rückte die faschistische Wehrmacht im August auf Leningrad vor. Als am 8. September das am Ufer des Ladogasees gelegene Schlüsselburg von den deutschen Truppen besetzt wurde, war Leningrad umstellt, alle Landverbindungen unterbrochen. Es folgten schwere Luftangriffe auf zivile Ziele in der Stadt, etwa Wasser- und Elektrizitätswerke oder Lebensmittellager, aber auch Schulen und Krankenhäuser. Eine Besetzung Leningrads strebten die Nazis allerdings nicht an, wie Propagandaminister Joseph Goebbels in seinem Tagebuch schrieb: »Es erscheint notwendig, dass diese Stadt überhaupt verschwindet. Wir könnten auch, wenn wir diese Stadt eroberten, gar nicht die dort zusammengepferchte Fünf-Millionen-Masse überhaupt ernähren. Woher sollten wir die Lebens- und Transportmittel dazu nehmen? Von dieser Stadt ist der Bolschewismus ausgegangen, und in dieser Stadt wird der Bolschewismus endgültig zerschmettert werden.«¹ Und der Stab der deutschen Kriegsmarine ordnete am 22. September 1941 in einer geheimen Direktive an: »Sich aus der Lage der Stadt ergebenden Bitten um Übergabe werden abgeschlagen werden. Ein Interesse an der Erhaltung auch nur eines Teils dieser großstädtischen Bevölkerung besteht (…) unsererseits nicht.«²

Eine Million Tote

Die Blockade dauerte insgesamt 872 Tage, rund zweieinhalb Jahre. Schätzungen zufolge starben mindestens eine Million Menschen, die meisten von ihnen verhungerten oder fielen den Bombenangriffen der Nazis zum Opfer. Auf dem Gedenkfriedhof Piskarjowskoje in St. Petersburg sind rund eine halbe Million Opfer der Blockade in Massengräbern beigesetzt. Ihre letzte Ruhestätte ist ein Mahnmal, das an die unmenschlichen Verbrechen der Faschisten erinnert. Die Gräber liegen an einer langen Allee, an deren Ende sich die Statue der »Mutter Heimat« erhebt. Hinter dem Denkmal zieht sich eine Granitmauer entlang, auf dem das Gedicht »Hier liegen Leningrader« zu lesen ist:

»Hier sind die Bürger, Männer, Frauen, Kinder. / Neben ihnen Soldaten der Roten Armee … / Mein ganzes Leben / Sie haben dich beschützt, Leningrad, / Wiege der Revolution / Wir können ihre edlen Namen hier nicht auflisten: / Viele von ihnen stehen also unter dem ewigen Schutz des Granits. / Aber wisse, höre diesen Steinen zu, / Niemand wird vergessen, und nichts wird vergessen!«³

Die Verfasserin dieser Verse war Olga Bergholz. Sie wurde 1910 im damaligen St. Petersburg geboren und arbeitete als Schriftstellerin und Journalistin. Unmittelbar nach Kriegsbeginn 1941 begann sie, für den Rundfunk zu arbeiten, wo Ersatz für Redakteure benötigt wurde, die zur Armee einberufen worden waren. In den langen Monaten der Blockade wurde ihre Stimme für die Eingeschlossenen zu einer Stimme des Lebens und der Hoffnung. Fast täglich machte sie ihren Hörerinnen und Hörern mit ihren Gedichten und Ansprachen Mut, unterbrochen nur wenige Wochen im März und April 1942, als sie gegen ihren Willen zur ärztlichen Behandlung nach Moskau gebracht wurde, von wo sie so schnell wie möglich zurückkehrte. Während sie überlebte, gehörte ihr Mann Nikolai Molchanow zu den Opfern der Blockade, er starb im Januar 1942.

Seit 1931 nutzte Radio Leningrad einen 100 Kilowatt starken Langwellensender, der in der 15 Kilometer südöstlich der Millionenmetropole gelegenen Stadt Kolpino stand.⁴ Der Ort mit seinen ursprünglich etwa 37.000 Einwohnern und damit auch der Rundfunksender lagen während der Blockade innerhalb des von den deutschen Besatzern gezogenen Belagerungsrings. Deshalb konnte er rechtzeitig in Sicherheit gebracht und am Primorski-Prospekt im Nordwesten Leningrads gut getarnt wieder in Betrieb genommen werden.⁵

Das war für die Menschen in der eingeschlossenen Stadt lebenswichtig, auch wenn sie das Programm zumeist über Lautsprecher oder im Drahtfunk über die Telefonleitungen empfingen. Bereits ab dem 26. Juni schaltete Radio Leningrad nicht mehr, wie bis dahin üblich, um Mitternacht ab, sondern blieb in Betrieb. Wenn das reguläre Programm beendet war, hörte man rund um die Uhr das Ticken eines Metronoms, wie es sonst Musikern den Taktrhythmus angibt. Wurde die Geschwindigkeit des Taktgebers schneller, drohte Gefahr durch deutsche Flugzeuge oder Artilleriebeschuss – die Menschen suchten Schutz in Kellern und Bunkern. War der Angriff vorüber, verlangsamte sich der Rhythmus wieder. Später verglichen die Leningrader das ständige Ticken mit einem Herzschlag, der ihnen zeigte, dass ihre Stadt noch am Leben war.

Radio Leningrad war in dieser Zeit praktisch die einzige Verbindung der Bürger zum Rest der Welt. Zeitungen kamen nur noch selten und mit langen Verspätungen an. Doch über den Sender erfuhr die Stadt, was an den Fronten und in ihrem Land passierte. Und umgekehrt war Radio Leningrad die Stimme, die den Menschen in der Sowjetunion zeigte, dass die Stadt nicht gefallen war und Widerstand leistete. Regelmäßig übertrug man Programme, die sich an das ganze Land richteten und von Radio Moskau mit seinen starken Anlagen übernommen und weiterverbreitet wurden. Sie begannen stets mit den gleichen Worten: »Hier ist Radio Leningrad! Die Stadt Lenins ruft das Land.« Olga Bergholz erinnerte sich später: »Das war in der verzweifeltsten Phase des Krieges, als die deutschen Armeen vorwärts stürmten und wir gezwungen waren, eine Stadt nach der anderen aufzugeben. Doch da war Leningrad, das die Deutschen zum Stehen brachte. Leningrad hielt stand, und live übertragene Stimmen von Leningradern verkündeten, dass die Stadt weder heute noch morgen noch jemals kapitulieren werde. Und am nächsten Tag sprach die Stadt erneut.«⁶

Im Dezember 1941 musste Radio Leningrad zeitweilig abgeschaltet werden, weil die Stromversorgung unterbrochen war. Nur in einigen Vierteln der Stadt funktionierte die Übertragung per Lautsprecher noch. In dieser Zeit schleppte sich einem Bericht zufolge ein alter Mann auf zwei Stöcke gestützt zum Rundfunkgebäude, um eine Wiederaufnahme der Sendungen zu erreichen: »Solange es sich nur darum handelt, mutig zu sein, ist alles gut. Auch eine Kürzung der Lebensmittelrationen lässt sich ertragen. Aber lassen Sie das Radio sprechen. Wenn das aufhört, ist das Leben zu fürchterlich. Dann ist es, als läge man im Grab.«⁷

»Man muss lesen«

Ab Februar 1942 sprach das Radio wieder. Ein auf dem Grund des Lagodasees verlegtes Kabel stellte die Stromversorgung sicher. Aber die Arbeits- und Lebensbedingungen waren auch für die Beschäftigten des Senders dramatisch. Sie litten und hungerten ebenso wie die, für die sie Programm machten. Weil sich viele Sprecher kaum noch auf den Beinen halten konnten, wurde im Studio ein hölzernes Gestell in T-Form errichtet, das an eine Harke ohne Zähne erinnerte. Vom Schriftsteller Lew Uspenski darauf angesprochen, erläuterte der Direktor des Senders, Jakow Babuschkin, dass dies eine Stütze sei, um sich vor dem Mikrofon aufrecht halten zu können, wenn man zu schwach war, um noch alleine stehen zu können. Doch das Programm müsse weitergehen, so Babuschkin: »Man muss lesen. In vielen tausend Wohnungen warten die Menschen auf die Stimme des Sprechers, und diese Stimme erhält sie vielleicht am Leben.«⁸

Zu denen, die sich in Leningrad zu Wort meldeten, gehörte Dmitri Schostakowitsch. Der 1906 in St. Petersburg geborene Komponist hatte sich bei Kriegsbeginn als Freiwilliger zu den Milizen gemeldet, um sich an der Verteidigung seiner Heimatstadt zu beteiligen. »Man sagte mir jedoch, ich solle warten«, erinnerte er sich am 19. April 1942 in einem Beitrag für den Moskowski Bolschewik. »Ein Kommissar sprach mit mir. Er meinte, dass sich meine Tätigkeit auf das Schreiben von Musik beschränken sollte.«⁹ So konzentrierte er sich auf seine musikalische Arbeit, während er zugleich als Mitglied der Feuerwehr bei der Brandbekämpfung half. Mitte September 1941, als der Lärm von Bomben und Flugabwehrgeschützen durch die Straßen hallte und die Leningradskaja Prawda vor dem unmittelbar bevorstehenden Sturm der Faschisten auf die Stadt warnte, sprach der Komponist über das Mikrofon. Er berichtete von der Arbeit an seiner 7. Sinfonie, die später als die »Leningrader« in die Geschichte einging: »Vor einer Stunde habe ich die Partitur von zwei Sätzen einer großen Sinfonie fertiggestellt. Wenn ich beim Schreiben dieser Komposition gut vorankomme und ich den dritten und vierten Satz vollenden kann, wird es möglich sein, sie die siebte Sinfonie zu nennen. Warum sage ich das? Damit die Radiohörer, die mich jetzt hören, wissen, dass das Leben in unserer Stadt normal verläuft. Wir erfüllen jetzt alle unsere militärische Pflicht.«¹⁰

Obwohl er lieber in Leningrad geblieben wäre, wurde Schostakowitsch mit seiner Familie im Oktober 1941 aus der Stadt ausgeflogen und setzte seine Arbeit in Kuibyschew, dem heutigen Samara, fort. Die Zeit in der Stadt nutzte der Komponist, um seine Sinfonie zu vollenden. Am 5. März 1942 wurde sie durch das ebenfalls evakuierte Orchester des Bolschoi-Theaters in Kuibyschew uraufgeführt, wenige Wochen später folgten Aufführungen in Moskau und in Nowosibirsk, wohin man das Orchester der Leningrader Philharmonie in Sicherheit gebracht hatte. Auch in London erklang die Sinfonie, und in New York führte das Rundfunkorchester der NBC unter der Leitung von Arturo Toscanini das Stück auf, live übertragen über die Sender der Gesellschaft. Doch am wichtigsten wurde die Premiere im belagerten Leningrad.

Ein Flugzeug der sowjetischen Luftwaffe durchbrach den Belagerungsring der Deutschen und brachte die Partitur in die Stadt. Der Leiter des Leningrader Rundfunkorchesters, Karl Elias­berg, erhielt die Aufgabe, die Sinfonie einzustudieren. Doch den Musikern fehlte die Kraft, und anstatt der fast 100 Musiker, die für eine Aufführung von Schostakowitschs Sinfonie notwendig waren, hatte Eliasberg nur noch 15 zur Verfügung. Um das Orchester aufzufüllen, wurden Bürger, die ein Instrument spielen konnten, über Radio Leningrad aufgerufen, sich beim Rundfunkkomitee zu melden, es winkte eine Sonderration Haferbrei. Zudem wurden Soldaten von der Front zum Musizieren abkommandiert.

Am 9. August schließlich erklang die Sinfonie erstmals im vollen Saal der Philharmonie, übertragen von Radio Leningrad. »Das Publikum bestand aus Arbeitern, die die Waffen zur Verteidigung geschmiedet hatten, Architekten, die bereits die Auferstehung der Stadt planten, Lehrern, die Kinder in den Luftschutzkellern unterrichteten, Schriftstellern und Dichtern, die auch in den herausfordernden Monaten des vergangenen Winters ihre Stifte nicht aus der Hand gelegt hatten, Soldaten, Offizieren, Parteifunktionären und Vertretern der Stadtverwaltung«, berichtete Bergholz. »Die Musiker des zusammengewürfelten Orchesters kamen auf die riesige Bühne der Philharmonischen Gesellschaft und füllten sie aus. Wir konnten in seiner Mitte die Musiker des Rundfunkorchesters sehen, Musiker in Armeeuniformen und Jacken der Marine. Wir sahen vor uns die Verteidiger von Leningrad, immer bereit, jederzeit ihr Leben für ihre Heimatstadt, ihr Land und ihr Volk zu geben.«¹¹

Wichtiges Lebenszeichen

Schon in den Monaten zuvor waren die im Radio übertragenen Konzerte wichtige Lebenszeichen gewesen. So spielten die Musiker am 7. Dezember 1941 Beethovens 5. Sinfonie – ein mutiges Statement, dass man den deutschen Komponisten nicht den deutschen Faschisten überlassen wollte.¹² Über den Leningrader Sender und die Lautsprecher nahe der Front waren die Konzerte auch bei den deutschen Soldaten in den Schützengräben zu hören. Elias­berg wurde Jahre nach Kriegsende von einem inzwischen älteren Deutschen angesprochen, der in jenen Monaten in den Schützengräben vor Leningrad gelegen hatte. Er zeigte dem Dirigenten ein kleines Tagebuch, in dem die übertragenen Konzerte des Leningrader Rundfunkorchesters verzeichnet waren, Beethoven besonders hervorgehoben. »Wissen Sie, als ich all das hörte, habe ich schon am Ende dieses Jahres begriffen, wir werden Leningrad niemals nehmen. Wenn in einer belagerten Stadt so etwas passieren kann, werden wir niemals in Leningrad einmarschieren.«¹³

Radio Leningrad wandte sich auch in deutscher Sprache an die Soldaten der Wehrmacht. Bereits seit Herbst 1939 hatte man eine Nachrichtensendung in deutscher Sprache eingeführt, die täglich ab 23 Uhr für 20 Minuten ausgestrahlt wurde. Nach Beginn der Blockade wurden die deutschsprachigen Sendungen ab Oktober 1941 ausgebaut. Elfmal täglich wandte man sich nun mit jeweils zehn- bis 15minütigen Sendungen vor allem an die deutschen Soldaten:¹⁴ »Achtung! Achtung! Deutsches Volk und deutsche Soldaten! Hört uns an! Wir sagen euch die Wahrheit!«¹⁵

Die Gestapo notierte in ihren Abhörprotokollen, der Leningrader »Hetzsender«, der sich mit der Bezeichnung »Deutscher Soldat! Höre uns!« melde und vor allem in der Nacht und am frühen Morgen aktiv sei, ziele auf die »Untergrabung der Autorität in der Wehrmacht und der Kampfmoral der deutschen Soldaten im Osten« ab. »So werden mehrfach Hinweise auf die Aussichtslosigkeit des Kampfes der deutschen Armee gebracht, das Kriegspotential der Gegner herausgestellt und riesige Menschenverluste im Operationsgebiet im Osten behauptet. Der Beeinflussung der Stimmung dient weiter die Verlesung erbeuteter Feldpostbriefe, in denen über angebliche Kriegsmüdigkeit, wirtschaftliche Not und seelische Niedergeschlagenheit in der Heimat berichtet wird.«¹⁶

Chefredakteur und Hauptsprecher der deutschsprachigen Sendungen war der Österreicher Friedrich »Fritz« Fuchs. Nach der Niederlage der Antifaschisten seines Heimatlandes bei den Februarkämpfen 1934 war er in die Sowjetunion gegangen, wo er von den Behörden ebenso wie sein Bruder Ernst nach Leningrad geschickt wurde. Als ausgebildete Zahntechniker arbeiteten sie im Stomatologischen Institut der Stadt und lernten im Kontakt mit ihren Kollegen die russische Sprache.

Was dann geschah, beschrieb Fuchs in einem kurz nach seinem Tod 1988 veröffentlichten Artikel in der Wiener Zeitschrift Medien & Zeit: »Am 22. Juni 1941 drangen deutsche Truppen ohne Kriegserklärung in die Sowjetunion ein. (…) Anfang August kam ein Vertreter aus dem Smolny in unser Institut und ließ mich zum Direktor rufen. Dort gab er mir bekannt, dass die Kommunistische Partei Leningrads von mir verlange, meine Arbeit hier im Institut aufzugeben und in den Leningrader Rundfunk zu übersiedeln, um dort die Arbeit des Chefredakteurs der deutschsprachigen Sendung zu übernehmen. Auf meinen Einwand, ich hätte doch keine Ahnung, welche Arbeit man im Rundfunk ausüben müsse, ja ich wisse nicht einmal, wie man ein Mikrophon halten müsse, erwiderte er, all das seien Kleinigkeiten, die ich in einer Minute lösen werde. Ich möge mich schon morgen früh im Rundfunk melden. Man erwarte mich dort zu einer sehr wichtigen Arbeit. Ich möge also nicht absagen, sondern meine Pflicht als österreichischer Kommunist in der Sowjetunion erfüllen.«¹⁷

In der Anfangszeit bestanden die Sendungen aus Übersetzungen sowjetischer Zeitungsartikel und Zusammenfassungen von Flugblättern, die über den deutschen Stellungen abgeworfen wurden. Das Material musste von der Parteileitung im Smolny freigegeben werden und durfte erst dann über den Sender gehen. Das stellte sich aber als wenig praktikabel heraus, wollte man schnell auf aktuelle Nachrichten reagieren. Fuchs erinnerte sich: »Am Vormittag hörte ich aus dem Radioapparat, den man mir gegeben hatte, eine Rede des deutschen Propagandaministers Goebbels. Sie war so aufreizend und blöde, dass ich mich hinsetzte und darauf eine Antwort schrieb, in der ich die ganzen Dummheiten der Rede aufzeigte und den Hörern meiner Sendung klarmachte, wie die Lage an der Front tatsächlich war und was sie zu erwarten hätten, wenn sie nicht bald die Gefangenschaft als Rettungslager für ihr Leben in Anspruch nehmen würden.« Der Österreicher ließ seinen Kommentar ins Russische übersetzen und brachte ihn zu seinem Vorgesetzten, dem stellvertretenden Chefredakteur Viktor Chodarenko. Dieser sagte zu, den Beitrag zur Bestätigung der Parteileitung vorzulegen. »Also begab ich mich wieder in mein Zimmer und wartete. Eine halbe Stunde vor Beginn meiner Sendung ging ich wieder in die Direktionsetage, wo mir Viktor Antonowitsch sagte, es sei aus dem Smolny noch keine Antwort gekommen.«

Daraufhin sagte Fuchs seinem Chef, dass die Sendung in wenigen Minuten beginne. »Ich muss meinen Artikel heute bringen, denn morgen oder übermorgen weiß kein Deutscher mehr, was Goebbels im Rundfunk gesagt hat. Sie und der Direktor haben meinen Artikel für gut befunden. Ich übernehme daher allein die Verantwortung dafür, dass ich ihn heute veröffentliche.« Damit war der Bann gebrochen, und Fuchs konnte von nun an schreiben, was er für richtig und wichtig hielt.«¹⁸

In Berlin beobachtete man mit Sorge den möglichen Einfluss der Sendungen aus Leningrad auf die Moral der Truppe. Eberhard Taubert – damals unter anderem Leiter der »Abteilung Ost« des Propagandaministeriums und Chef der »Antikomintern«, nach dem Krieg Vizechef des vom Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen finanzierten antikommunistischen »Volksbundes für Frieden und Freiheit«¹⁹ – verlangte im Namen von Goebbels vom Oberkommando der Wehrmacht, zumindest die Sendeanlagen von Radio Leningrad zum Schweigen zu bringen. Doch das OKW teilte am 3. September 1942 mit, dass »eine wirksame Bekämpfung des Senders Leningrad zur Zeit aus militärischen Gründen weder von der Erde aus noch aus der Luft möglich ist«.²⁰

Belagerung durchbrochen

Und so konnte Radio Leningrad in der Nacht zum 19. Januar 1943 melden, dass der Blockadering der Deutschen durch die Rote Armee durchbrochen worden sei. Alles, was dann geschah, war »spontan, unvorbereitet und ungeplant«, erinnerte sich Olga Bergholz an diese Stunden. »Musik, hier und dort geschriebene Gedichte, Reden – es war ein beständiger, unaufhörlicher Strom freudiger Erregung, der von der Wolchow-Front, dem ganzen Land, der ganzen Welt gehört wurde. Und die größte Auszeichnung für uns im Studio war in dieser Nacht des Feierns, dass die Leningrader in Scharen zu uns strömten. (…) Obwohl die ­Blockade noch ein weiteres Jahr anhielt, nachdem der Durchbruch erreicht worden war, mit weiteren erschöpfenden Angriffen, Bombardierungen und neuen Prüfungen für die Menschen, obwohl der glückliche Tag der letzten Erlösung der Stadt erst ein Jahr später kam, erinnern sich die Leningrader der Nacht des 18. Januar 1943 als des Gipfels der Freude, als einer Nacht, in der sich alle Herzen einander geöffnet haben«, schrieb Olga Bergholz. »Und einen unverzichtbaren Anteil an dieser Nacht hatte die Stimme des Radios, das zum ersten Mal nach langen Monaten die Nacht hindurch bis zum Morgengrauen sang und sprach, damit alle Welt den Jubel Leningrads hören konnte.«²¹

Anmerkungen

1 Joseph Goebbels: Tagebücher, Bd. IV, München 2003, S. 1671 (­Eintrag v. 24. September 1941)

https://www.bpb.de/themen/deutschlandarchiv/340408/leningrad-niemand-ist-vergessen/

https://ik-ptz.ru/de/literature/ya-govoryu-nas-grazhdan-leningrada-ya-govoryu-s-toboi-pod-svist.html

4 Hansjörg Biener: »Goworit Leningrad« (1941–1944). In: Rundfunk und Museum (2021), H. 101, S. 28–37

5 Ebd., S. 29

6 Olga Bergholz: »This is Radio Leningrad«. In: Moscow – Stalingrad, 1941–1942, Moskau 1970, S. 166

7 Biener (Anm. 4), S. 32

8 Ebd., S. 31

9 Jürgen Meier: »Für alle ist irgendwo ein Lächeln …«. In: Streifzüge, 9. September 2006. https://www.streifzuege.org/2006/­fuer-alle-ist-irgendwo-ein-laecheln

10 https://www.youtube.com/watch?v=Khby544gyGw

11 Bergholz (Anm. 6), S. 176

12 David B. Dennis: Beethoven in German Politics, 1870–1989, New Haven 1996, S. 170

13 Lev S. Marchasev, Marianna Butenschön, Gabriele Leupold: Beethoven gegen Hitler: Das Leningrader Radio in der Blockade. In: Osteuropa 61 (2011), H. 8/9, S. 223 f.

14 Conrad Pütter: Rundfunk gegen das »Dritte Reich«, München 1986, S. 270

15 http://militera.lib.ru/h/rubashkin_ai/09.html

16 Bundesarchiv, R 58/3106, S. 111f.; https://invenio.bundesarchiv.de/invenio/direktlink/09aa4381-05b5-435e-b240-d6f7cf728468/

17 Friedrich Fuchs: Wie ich ein Leningrader wurde. In: Medien & Zeit, 2/88, S. 14, https://medienundzeit.at/wp-content/uploads/2015/02/MZ_digital_1988-02_ocr-.pdf

18 Ebd., S. 15 f.

19 Vgl. Klaus Körner: Erst in Goebbels’, dann in Adenauers Diensten, Die Zeit, Nr. 35/1990, https://www.zeit.de/1990/35/erst-in-­goebbels-dann-in-adenauers-diensten/komplettansicht

20 Willi A. Boelcke: Die Macht des Radios, Frankfurt am Main/Berlin/Wien 1977, S. 272

21 Bergholz (Anm. 6), S. 176 f.

Erschienen am 3. Juni 2023 in der Tageszeitung junge Welt