junge Welt, 17. Mai 2023

»Wo ist der Rommel?«

Serie: Klassenkampf im Äther – 100 Jahre Rundfunk in Deutschland. Teil 5: Antifaschistische »Feindsender« während des Zweiten Weltkriegs

Die Phrasen waren bis zum Überdruss bekannt. »Wem die Vorsehung so schwere Prüfungen auferlegt, den hat sie zu Höchstem berufen«, tönte Adolf Hitler am 31. Dezember 1944 in seiner vom Großdeutschen Rundfunk übertragenen Silvesteransprache. »In dieser Stunde will ich daher als Sprecher Großdeutschlands gegenüber dem Allmächtigen das feierliche Gelöbnis ablegen, dass wir treu und unerschütterlich unsere Pflicht auch im neuen Jahr erfüllen werden …« Doch diesmal wurde dem »Führer und Reichskanzler« widersprochen. »Das Jahr 1945 muss das Ende der Hitlertyrannei sein!« rief plötzlich eine Stimme dazwischen. Und mitten in das folgende Horst-Wessel-Lied noch einmal: »Nieder mit Hitler und seiner Bande! Weg mit den Nazis!«

»Feindsprüche«

Nicht nur bei den Faschisten, sondern auch bei vielen Hörern rief diese »Geisterstimme« Aufregung hervor. Wie war so etwas möglich? Waren die alliierten Truppen schon so weit vorgestoßen, dass sie bereits im deutschen Rundfunk zu hören waren?

Tatsächlich saß der Sprecher der antifaschistischen Kommentare in einem Studio in Moskau und verfolgte aufmerksam die Parolen aus Berlin. War der richtige Zeitpunkt gekommen, um mit kurzen Sätzen die Lügen zu kommentieren, verstärkten die sowjetischen Techniker kurzfristig die Leistung ihrer Sender und überlagerten so die Frequenz, auf der das deutsche Programm lief. Vor allem im Norden und Osten Deutschlands war dann für einen kurzen Augenblick nicht mehr Hitler zu hören, sondern die Stimme eines deutschen Kommunisten.

Bereits kurz nach dem deutschen Überfall 1941 hatten die sowjetischen Propagandisten begonnen, mit »Feindeinsprüchen«, wie es im Beamtendeutsch der Gestapo hieß, den deutschen Rundfunk zu stören. Die Nazis stellte das vor Probleme, denn ihre Störsender waren gegen diese Waffe wirkungslos, wenn sie nicht ihre eigenen Programme unhörbar machen wollten. Die Aufgabe der kurzen Zwischenrufe war es allerdings nicht, die Hörer zu informieren, was auf diese Weise kaum möglich gewesen wäre. Aber sie konnten auf Widersprüche der Nazipropaganda hinweisen, etwa wenn die »Geisterstimme« am 8. Dezember 1942 mitten in der Nachrichtensendung des Großdeutschen Rundfunks fragte: »Wo ist der Rommel?« und kurz darauf warnte: »In Italien geht es drunter und drüber!« Schließlich dann die kurze Feststellung: »Mit der Schnauze haben wir längst gesiegt!«¹

Wer sich ausführlicher über die tatsächliche Kriegslage informieren wollte, musste auf die sogenannten Feindsender ausweichen. Zwar war das seit dem 1. September 1939 in Deutschland offiziell verboten und es drohten drastische Strafen bis hin zur Hinrichtung, doch Millionen Menschen wagten es, auf die Sender der gegnerischen Mächte umzuschalten, etwa auf Radio Moskau oder die BBC London. Deren Inhalte wurden aber von den Behörden kontrolliert, deutsche Emigranten hatten auf die offiziellen Programme wenig bis keinen Einfluss. In dem erst 1938 hektisch eingerichteten deutschsprachigen Dienst der BBC London waren sie nur als Sprecher und Übersetzer willkommen, eigenständige redaktionelle Arbeit durften sie nicht leisten.

Einen gewissen Freiraum für deutsche Antifaschisten in Großbritannien hatte es nur zu Beginn des Krieges gegeben. Zwischen 1939 und 1941 verfolgte die Londoner Regierung noch keine einheitliche Strategie, wie man auf die Bevölkerung der feindlichen Länder einwirken wollte. Mehrere Ministerien und Behörden machten sich gegenseitig Kompetenzen streitig. Davon konnten Emigranten profitieren, die über Verbindungen in Behörden und Ministerien verfügten. Einer von ihnen war der ehemalige Reichstagsabgeordnete der katholischen Zentrumspartei Carl Spiecker. Er hatte bereits Anfang 1938 im Namen einer von ihm gegründeten konservativen Emigrantengruppe mehrere Monate lang von einem unter britischer Flagge in den internationalen Gewässern des Ärmelkanals kreuzenden Fischkutter aus den Sender der Deutschen Freiheitspartei betrieben und zum Widerstand gegen das Hitlerregime aufgerufen.² 1940 gelang es Spiecker dann, die britischen Behörden zur Einrichtung eines neuen Geheimsenders zu bewegen, der sich Ende Mai 1940 erstmals mit der Ansage »Hier spricht Deutschland« auf Kurzwelle meldete. Die einzigen Redakteure und Sprecher waren Spiecker selbst und der Journalist Hans Albert Kluthe, der in der Weimarer Republik für liberale Zeitungen und Zeitschriften geschrieben hatte. Sie versuchten, Angehörige der Mittelschicht davon zu überzeugen, dass es für einen »echten Deutschen unmöglich sein (müsse), ein Nazi zu sein«. Zugleich übernahmen sie allerdings die Naziparole vom »Bedarf an Lebensraum« und forderten sogar noch im Februar 1941 ein »starkes Deutschland unter Beibehaltung seiner militärischen Gebietsgewinne«.³

Das kollidierte zusehends mit den britischen Kriegszielen. Am 15. März 1941 musste Spiecker den Betrieb seines Senders einstellen. Weiter arbeiten konnte dagegen vorerst der Sender der Europäischen Revolution, der sich erstmals am 7. Oktober 1940 auf Kurzwelle im 30-Meter-Band gemeldet hatte: »Wir sprechen für alle, die zum Schweigen verdammt sind! Wir rufen die Massen zur politischen und sozialen Revolution! Wir kämpfen für ein Europa des Friedens!«⁴

Initiiert hatten den Sender linkssozialistisch orientierte deutsche Emigranten, die dabei von britischen Gewerkschaften und der Internationalen Transportarbeiter-Föderation (ITF) unterstützt wurden. Ihr wichtigster Verbündeter im britischen Staatsapparat war der Labour-Politiker Richard Crossman, der nach dem Krieg lange Jahre Abgeordneter im Unterhaus war, Ministerposten bekleidete und dem Vorstand seiner Partei angehörte. Er setzte den Sender gegen Vorbehalte seiner Kollegen durch.

Sozialistisch und antikommunistisch

Die Redaktion des Senders der Europäischen Revolution bildete sich um den bayerischen Sozialdemokraten Waldemar von Knoeringen, das Ehepaar Evelyn und Paul Anderson sowie den Journalisten Fritz Eberhard und einige weitere. Sie genossen weitgehende politische und journalistische Freiheit, eine vorherige institutionalisierte Zensur gab es nicht. Die Programme propagierten eine sozialistische, zugleich aber auch antikommunistische Position. So nutzte man am 21. Januar 1941 – als der Nichtangriffspakt zwischen Deutschland und der Sowjetunion noch in Kraft war – den Todestag von Wladimir Iljitsch Lenin für einen Kommentar, dass dieser den »Weg zum Bündnis mit Hitler niemals gegangen« wäre. Er habe aber »die Wurzeln des Stalinismus nicht rechtzeitig erkannt«. Dann spannte man den Bogen zur Situation in Hitlerdeutschland: »Unter seiner Diktatur gibt es zwar keine offenen innenpolitischen Krisen mehr, dafür hat er aber durch seine imperialistische Außenpolitik eine Krise furchtbarsten Ausmaßes heraufbeschworen: den Zweiten Weltkrieg. Er hat zwar durch die Beschäftigung der Arbeiter in der Rüstungsproduktion die Existenzfrage des Einzelnen vorübergehend gelöst, aber er hat dadurch einen Krieg vorbereitet und führt nun diesen Krieg, der die Existenz des ganzen deutschen Volkes aufs Spiel setzt.«⁵

Die Aufzeichnungen der in die Mikrofone gesprochenen Kommentare verdanken wir unter anderem der Gestapo, deren Schergen die Programme dieses und anderer »Feindsender« eifrig mitprotokollierten und in dicken, als »Geheim!« klassifizierten Akten archivierten. So findet sich in den Unterlagen auch eine weitere Notiz aus dem Februar 1941, in der die »Polemik des Senders der Europäischen Revolution gegen die Diplomatie der Sowjetunion« hervorgehoben wird: »Ihre Haltung könne nicht mehr mit Gerissenheit, mit Schwäche oder gar mit verschleierter Feindschaft gegen den nationalsozialistischen Imperialismus erklärt werden. Das Stalin-Regime sei offen in die faschistische Weltfront eingerückt: ›Niemals soll die revolutionäre Arbeiterschaft vergessen, dass dieser Krieg vielleicht nie möglich gewesen wäre ohne die Hilfe Stalins für Hitler, und dass auch noch nach dem Russenpakt von 1939 eine hitlerfeindliche Neutralität der Sowjetunion viele Völker Europas vor dem Schicksal der Sklaverei hätte bewahren können‹.«⁶

Spätestens mit dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 und der Bildung einer antifaschistischen Koalition zwischen Moskau, London und Washington passten solche Töne nicht mehr in das politische Konzept der britischen Regierung. Am 30. April 1942 musste der Sender der Europäischen Revolution den Betrieb einstellen. Wenige Tage später meldete sich auf ähnlichen Kurzwellenfrequenzen ein Arbeitersender. Wie sein Vorgänger präsentierte er sich als Sprachrohr einer linken Untergrundorganisation in Deutschland.⁷ Allerdings standen hinter diesem Programm nun keine Emigranten mehr, sondern die Londoner Propagandisten, und es ging auch nicht mehr um die Propagierung von Vorstellungen über die zukünftige Gestalt eines befreiten Deutschlands, sondern um Zersetzung und Zermürbung des Feindes. »In meinen Augen waren alle diese Versuche, die Deutschen durch Aufrufe und Kritik zum Aufstand gegen Hitler zu bekehren, eine Verschwendung von Atem und elektrischem Strom«, schrieb der Leiter der britischen Schwarzsender, Sefton Delmer, dazu in seinen Erinnerungen. »Wer in dem damaligen Stadium des Krieges die Deutschen zu hitlerfeindlichen Gedanken und Handlungen veranlassen wollte, musste sich des Mittels der Irreführung bedienen.«⁸

Ein Beispiel dafür war der im Oktober 1943 gestartete Soldatensender Calais, die nahezu perfekte Kopie eines deutschen Wehrmachtssenders in den besetzten Gebieten. Natürlich stand er nicht in der nordfranzösischen Hafenstadt, sondern kam über den britischen Mittelwellensender »Aspidistra«, der mit einer Sendeleistung von 600 Kilowatt als die stärkste Station seiner Zeit galt. Wie die echten Soldatensender der Nazis, die die Landser bei Laune halten sollten, verbreitete Calais flotte Musik und offizielle Meldungen der Wehrmachtsführung. Dazwischen wurden jedoch immer wieder Meldungen über Niederlagen der Deutschen, Materialmangel an den Fronten oder Zerstörungen in Deutschland eingestreut, die den Durchhalteparolen des Propagandaministeriums widersprachen.

Stimmen der Komintern

In der Sowjetunion beschloss die Kommunistische Internationale nach dem deutschen Überfall die Einrichtung von Freiheitssendern vor allem für die von den Faschisten besetzten Länder. Anfang August 1941 waren bereits sechs von ihnen in Betrieb: Radio Tadeusz Kosciuszko auf polnisch, »Für die nationale Befreiung« auf tschechisch, Milano Libertà auf italienisch, Radio España Independiente auf spanisch, Christo Botew auf bulgarisch und Romania Libera auf rumänisch.⁹ In den folgenden Wochen kamen weitere hinzu, etwa Za slovensku slobodu (Für die slowakische Freiheit) in slowakischer und der Sudentendeutsche Freiheitssender in deutscher Sprache.¹⁰ Im November 1941 folgte der Sender Österreich, der von dem KPÖ-Mitglied und Journalisten Erwin Zucker-Schilling geleitet wurde. Auch Programme für Griechenland, Jugoslawien und weitere Länder wurden verbreitet.

Eingeleitet mit der Melodie von »Die Gedanken sind frei« als Pausenzeichen meldete sich ab dem 10. September 1941 der Deutsche Volkssender als »Stimme der nationalen Friedensbewegung«, wie es in der Ansage hieß. »Hitler hat den Krieg begonnen, Hitlers Sturz wird ihn beenden.«¹¹

In der Anfangszeit versuchte man den Eindruck zu erwecken, dass die Sendungen von einer geheimen Funkstation innerhalb Deutschlands verbreitet würden. »Wir sprechen mitten aus dem Erleben unseres Volkes heraus«, hieß es in der ersten Sendung am 10. September 1941. »Wir sind seine Stimme. Das Anhören und Verbreiten unserer Sendungen ist ein echter nationaler Dienst am Volke.«¹² Schon nach einem halben Jahr wurde diese Legende jedoch aufgegeben, der Deutsche Volkssender trat nun offen als Stimme der in die Sowjetunion emigrierten Führung der KPD auf.¹³ Damit ergänzte er die deutschsprachigen Sendungen von Radio Moskau, in denen zwar führende Vertreter der KPD zu Wort kamen, die aber doch immer die offizielle Stimme der UdSSR waren. »Unser Sender hatte die Aufgabe, nicht nur die politische Linie und die Argumente für die vielschichtige Arbeit im Land aktuell, treffend, überzeugend und lebendig zu verbreiten, sondern vor allem auch eine möglichst konkrete, den schweren Bedingungen angepasste Anleitung für den praktischen illegalen Kampf, für dessen Organisationsformen, seine Methoden zu geben.«¹⁴

So fasste Markus Wolf die Arbeit zusammen. Der spätere Chef der Hauptverwaltung Aufklärung (HVA) des Auslandsgeheimdienstes der DDR hatte als 20jähriger Ende August 1943 als Sprecher und Redakteur beim Deutschen Volkssender angefangen. Im Gespräch mit der Redaktion der Beiträge zur Geschichte des Rundfunks führte er 1977 weiter aus: »Diese Aufgabenstellung stieß auf vielfältige Schwierigkeiten. Denn der Gestapo-Terror und die enormen Verluste unserer Partei, die notwendige Dezentralisierung der Organisation und auch die Konspiration sicherten keinen systematischen Informationsfluss aus dem Lande mehr. Wir waren also darauf angewiesen, gestützt auf das Wissen und die Hinweise unserer Parteiführung über den Kampf im Lande, uns aus den vielfältigsten Quellen ein solches Faktenwissen zu erarbeiten, das eine wirklichkeitsnahe, den Aufgaben entsprechende aktuelle Sendetätigkeit jeden Tag und mehrmals am Tag ermöglichte.«¹⁵

Die Gestapo verfolgte die Programme des Deutschen Volkssenders mit größter Aufmerksamkeit. In einem Lagebericht des Reichssicherheitshauptamtes vom 1. April 1942 etwa wurde ein Kommentar zur Ernährungslage in Deutschland mitgeschrieben: »Bis ins einzelne gehende Anweisungen gab auch der Deutsche Volkssender, der u. a. aufforderte, auf den Märkten, vor den Ernährungsämtern, vor den Kreisleitungen und den Bürgermeistereien für die sofortige Freigabe der für die Kriegsverlängerung angehäuften Vorräte zu demonstrieren. Die Arbeiter in den Rüstungsbetrieben sollten es ablehnen, mit leerem Magen für Hitlers Krieg zu schuften. Die Eisenbahner sollten erklären, dass sie nur noch Lebensmitteltransporte, aber keine Kriegstransporte mehr fahren.«¹⁶

Friedenspropaganda

Der Deutsche Volkssender propagierte auch die Bildung einer breiten nationalen Sammlungsbewegung gegen Krieg und Faschismus. So notierten die Abhörer der Gestapo am 17. Dezember 1942, dass er über ein »Friedensmanifest oppositioneller Kreise aus dem Rheinland und dem Ruhrgebiet« berichtet habe, demzufolge sich »zahlreiche oppositionell eingestellte Männer und Frauen aus allen Schichten der Bevölkerung zur Manifestierung des Friedens zusammengeschlossen« hätten. Knapp zwei Wochen später hielten die Agenten die Verbreitung eines »Aktionsprogramms der nationalen Friedensbewegung« fest, in dessen zehn Punkten unter anderem die sofortige Einstellung der Kriegshandlungen, die Schaffung einer national-demokratischen Friedensregierung und die Auflösung von SS und Gestapo gefordert worden seien.¹⁷

Konkrete Gestalt nahm diese nationale Sammlungsbewegung im Mai 1943 an, als das Politbüro des KPD-Zentralkomitees in Moskau den »Vorschlag zur Bildung eines deutschen Komitees zum Kampf gegen Hitlerkrieg und Nazityrannei« fasste, der schließlich zur Gründungsversammlung des »Nationalkomitees Freies Deutschland« (NKFD) im Juli 1943 führte. Das Gründungsmanifest wurde von 21 kriegsgefangenen Soldaten und Offizieren sowie zwölf emigrierten Zivilistinnen und Zivilisten unterzeichnet. Im September folgte dann die Konstituierung des »Bundes Deutscher Offiziere«, über den mehrere Wehrmachtsgeneräle an das NKFD herangeführt werden konnten.

Die Nazis registrierten die Gründung über eine Rundfunkmeldung vom 20. Juli 1943, die sie dem Sender Moskau zuschrieben.¹⁸ Zu vermuten ist, dass die Abhörer der Gestapo nicht das offizielle sowjetische Rundfunkprogramm erwischt hatten, sondern die erste Ausstrahlung des Senders Freies Deutschland, der an jenem Tag den Betrieb aufnahm. Schon unmittelbar nach der Gründung des Nationalkomitees waren in Moskau konspirativ arbeitende Redaktionen für die Zeitung Freies Deutschland und den gleichnamigen Rundfunksender eingerichtet worden. Dem Sender standen zunächst eine Mittelwellen- und mehrere Kurzwellenfrequenzen zur Verfügung, im September 1944 kam noch die Langwelle hinzu. So war man nicht nur an der gesamten Front, sondern auch in Deutschland gut zu empfangen, sofern die Störungen durch die Nazis nicht zu stark waren. Meldete man sich anfangs dreimal täglich, wurde die Zahl der Sendungen bis Juli 1944 auf acht Sendungen von jeweils zwischen 15 und 80 Minuten Dauer ausgeweitet. Entgegen mancher späterer Berichte ersetzte der Sender des NKFD jedoch nicht den Deutschen Volkssender, auch wenn dieser einige Mitarbeiter an das Nationalkomitee abgeben musste. Beide Stationen stellten ihre Arbeit erst nach der Befreiung Deutschlands vom Faschismus ein.

Der Sender des NKFD meldete sich nach der Erkennungsmelodie »Der Gott, der Eisen wachsen ließ« mit der Ansage »Achtung, Achtung, hier spricht der Sender des Nationalkomitees Freies Deutschland! Wir sprechen im Namen des deutschen Volkes! Wir rufen zur Rettung des Reiches!«¹⁹ Die Sendungen richteten sich in erster Linie an die deutschen Soldaten an der Ostfront, aber auch an Hörer im Reich selbst. So verbreitete man am 17. August 1943 einen »Appell an das deutsche Volk und an die deutsche Wehrmacht«, in dem es der Mitschrift durch die Gestapo zufolge hieß: »Die Fortsetzung des Krieges bedeutet Selbstmord der Nation und der Wehrmacht. Mit jedem Tag wird die Lage aussichtsloser, mit jedem Tag wird Deutschland ohnmächtiger, mit jedem Tag müssen sich die Friedensbedingungen verschlimmern, mit jedem Tag, den die deutschen Armeen auf russischem Boden stehen, vergrößern sie die Wut ihres mächtigsten Gegners, des russischen Volkes. Nur durch die Beseitigung des Hitlerregimes kann das Vertrauen des russischen Volkes und aller demokratischen Mächte wiedergewonnen werden. In dieser gefährlichen Stunde wiederholt das Nationalkomitee noch einmal dringlich seinen Aufruf: Macht mit dem Krieg sofort ein Ende! Alle Volkskräfte gegen die Kriegsregierung Hitlers und für die Rettung unserer Nation vor der nahenden Katastrophe! Erkämpft euch eine wahrhaft nationale Regierung, die unserem Lande die Freiheit und den Frieden bringt!«²⁰

Kontakt per Funk

Zu Wort kamen im Sender kriegsgefangene Soldaten und Offiziere, deren Statements vor allem im Lager Lunjowo auf Schallplatten aufgenommen und dann nach Moskau gebracht wurden. Die »Lagerredaktion« wurde von Hans Mahle geleitet, der auch die Aufnahmen überwachte. Das letzte Wort hatte eine »Stadtredaktion« in Moskau unter der Leitung von Anton Ackermann und Walter ­Ulbricht. Zensur fand allerdings kaum statt. Sowohl die uniformierten als auch die zivilen Mitglieder des Nationalkomitees verfügten über einen relativ großen redaktionellen Freiraum, dessen Grenzen die Erfordernisse der militärischen Geheimhaltung waren. Hielten die sowjetischen Kontrolloffiziere doch einmal Änderungen für notwendig, wurden diese offenbar mit den betroffenen Soldaten abgesprochen.²¹

Neben seinem zentralen Sender gab es im Namen des Nationalkomitees eine Reihe kleinerer Stationen, die in Frontnähe von Beauftragten des NKFD betrieben wurden und sich meist an eingeschlossene Truppenteile richteten. So meldete sich im März 1945 ein Soldatensender Ostpreußen, der sich offen als Stimme des Nationalkomitees zu erkennen gab. Er wandte sich an die Soldaten im belagerten Königsberg, dem heutigen Kaliningrad.²² An die eingeschlossenen Soldaten im Kessel Kurland richtete sich im Frühjahr 1945 der Sender Baltikum. Eine Besonderheit dieser Station war, dass sie kapitulationswilligen Soldaten die Möglichkeit gab, sie per Funk zu kontaktieren: »Kameraden, wenn ihr uns verstanden habt, wenn unsere Sendung bei euch angekommen ist, dann gebt auf gleicher Frequenz, auf dem 42,7-Meter-Band, das Rufzeichen ›di di da di, da di di‹ – F, D, FD, Freies Deutschland! Wir gehen auf Empfang!«²³ Gefunkt wurde über einen mobilen, 1,5 Kilowatt starken Sender der sowjetischen Armee.²⁴

Am 8. Mai 1945, als im Westen die Kapitulation der Wehrmacht gefeiert wurde, kommentierte der Hamburger Schriftsteller Willi Bredel um 23.15 Uhr über den Sender Freies Deutschland: »›Wir kapitulieren nie‹, brüllten die Hitlerschurken noch vor wenigen Wochen. Und jetzt haben sie zu Hunderttausenden, zu Millionen kapituliert. Die Parole Goebbels hat schmählich versagt. Niederträchtiger hat noch niemand gehandelt als das Hitlergesindel. Es hat sich feige aus dem Staube gemacht und hat die Soldaten in Berlin sterben lassen. Einmalig ist diese Feigheit und Niederträchtigkeit der Nazibande. In Lüge und Schmach sind sie zusammengebrochen.«²⁵

Tag des Jubels

Am nächsten Morgen verbreitete der Sender dann den Wortlaut der deutschen Kapitulation und kommentierte: »Die Vernichtung des Hitlertums ist vollständig. Der Untergang war jämmerlich. (…) Das deutsche Volk steht vor einem Trümmerfeld.« Und über den Deutschen Volkssender hieß es: »Der Krieg ist beendet, und die Wehrmacht hat den Schritt getan, den sie schon nach Stalingrad hätte unternehmen sollen. Es muss nun das deutsche Volk gesäubert werden, weil es noch stark mit einer verbrecherischen Bande durchseucht ist. Diese wartet, um von neuem Unheil zu stiften. Erst wenn diese Elemente verschwunden sind, können wir unser Land wieder aufbauen. Im neuen Deutschland darf kein Platz sein für Rüstungsplutokraten und andere Kriegstreiber. (…) Für friedliche Menschen ist heute ein Tag des Jubels und der Siegesfreude, weil wir vom Verbrecher Hitler befreit sind.«²⁶

Anmerkungen

1 Hans Sarkowicz, Michael Crone (Hg.): Der Kampf um die Ätherwellen. Feindpropaganda im Zweiten Weltkrieg (Tondokumentation), Frankfurt am Main 1990

2 Conrad Pütter: Rundfunk gegen das »Dritte Reich«. Ein Handbuch, München 1986, S. 38 f.

3 Ebd., S. 104 f.

4 Ebd., S. 106

5 BArch R 58/2333, S. 8; https://invenio.bundesarchiv.de/invenio/direktlink/dff8b1da-14e6-4ba2-8f7d-d282529d4340/

6 Ebd., S. 64

7 Conrad Pütter, a. a. O., S. 119

8 Sefton Delmer: Die Deutschen und ich, Hamburg 1963, S. 445

9 Hermann Weber, Jakov Drabkin, Bernhard H. Bayerlein (Hg.): Deutschland, Russland, Komintern, Band II: Dokumente ­(1918–1943). Nach der Archivrevolution: Neuerschlossene Quellen zu der Geschichte der KPD und den deutsch-russischen Beziehungen, Berlin/München/Boston 2015, S. 1688 (Fußnote 86)

10 Tereza Maskova: Rozhlasove vysilani do okupovaného Ceskoslovenska, Cesky rozhlas, 30. April 2015; https://temata.rozhlas.cz/rozhlasove-vysilani-do-okupovaneho-ceskoslovenska-8044759

11 Markus Wolf: Das antifaschistische Deutschland hatte Stimme und Heimat. Erinnerungen an die Arbeit des Deutschen Volkssenders, in: Beiträge zur Geschichte des Rundfunks (1977), Nr. 2, S. 6

12 Zit. n. ebd., S. 5

13 Conrad Pütter, a. a. O., S. 289 f.

14 Markus Wolf, a. a. O., S. 8 f.

15 Ebd., S. 9

16 Reichssicherheitshauptamt: Meldung wichtiger staatspolizeilicher Ereignisse, 1. April 1942, S. 3; in: BArch R 58/3113, S. 5; https://invenio.bundesarchiv.de/invenio/direktlink/f83575b9-9f20-4240-9bf2-ee9aa4d5357b/

17 Reichssicherheitshauptamt: Meldung wichtiger staatspolizeilicher Ereignisse, 5. Januar 1943, S. 3 f.; BArch R 58/209; https://invenio.bundesarchiv.de/invenio/direktlink/d3eaf310-b345-487a-adbb-2e80d23ba420/

18 Reichssicherheitshauptamt: Meldung wichtiger staatspolizeilicher Ereignisse, 23. Juli 1943, S. 1; BArch R 58/211; https://invenio.bundesarchiv.de/invenio/direktlink/34161ced-e764-4777-aecd-240616f518a6/

19 Katharina Riege: Einem Traum verpflichtet. Hans Mahle – eine Biographie, Hamburg 2003, S. 157 ff.

20 Reichssicherheitshauptamt: Meldung wichtiger staatspolizeilicher Ereignisse, 27. August 1943, S. 1; BArch R 58/211; https://invenio.bundesarchiv.de/invenio/direktlink/34161ced-e764-4777-aecd-240616f518a6/ (Seite 43); abgerufen am 2. Mai 2023

21 Conrad Pütter, a. a. O., S. 280 ff.

22 Ebd., S. 316

23 Ebd., S. 317

24 Rudi Bunzel: Antifaschistische Rundfunksender im Kampf gegen Faschismus. In: Karl-Heinz Schubert (Hg.): Jahrbuch für den Funkamateur 1969, Berlin (DDR) 1968, S. 22 f.; https://archive.org/details/elektronischesjahrbuch/Elektronisches%20Jahrbuch%201969/page/n5/mode/2up?view=theater

25 Zit. n. Ansgar Diller: Das Kriegsende 1945 im europäischen Rundfunk. Aus den Berichten der schweizerischen Abhör-»Gruppe Ohr«, in: Rundfunk und Geschichte (1995), Nr. 2/3, S. 152; https://rundfunkundgeschichte.de/assets/RuG_1995_2-3.pdf

26 Ebd., S. 154

Erschienen am 17. Mai 2023 in der Tageszeitung junge Welt