junge Welt, 31.12.2016

Jahresrückblick 2016: Opposition ausgesessen

Vor einem Jahr wünschte Venezuelas Präsident Nicolás Maduro seinen Landsleuten alles Gute für ein Jahr »der Hoffnung und der Wiedergeburt«, das die »Zeit einer Heldentat zur Verteidigung der Unabhängigkeit und des Glücks« sei. Zwölf Monate später heißt der Staatschef des südamerikanischen Landes immer noch Maduro – und das ist wohl die entscheidende Nachricht am Ende eines Jahres, das die an der Bolivarischen Universität in Caracas lehrende Politikwissenschaftlerin Cira Pascual Marquina im Gespräch mit dem On­lineportal Hemisferio Izquierdo als das »für das Volk zweifellos schwerste der vergangenen Dekade« bezeichnete.

Im Dezember 2015 hatte die im »Tisch der demokratischen Einheit« (MUD) zusammengeschlossene Opposition die Parlamentswahlen gewonnen. Seit Beginn der neuen Legislaturperiode im Januar verfügt sie über eine Zweidrittelmehrheit der Mandate. Den neuen Parlamentspräsidenten Henry Ramos Allup verleitete das in seiner Antrittsrede dazu, eine Veränderung der Regierung »innerhalb von sechs Monaten« anzukündigen. Nach Ablauf dieser Zeit hatte sich die Opposition jedoch, wie es Héctor Briceño, Akademiker an der Zentraluniversität Venezuelas in Caracas, in einer Jahresbilanz für die ecuadorianische Zeitung El Universo formulierte, in ihrem »eigenen Netz verfangen«. Der Regierungsgegner wirft seinen Gesinnungsgenossen vor: »Die ersten Monate des Jahres bis April gingen verloren durch die Unentschlossenheit und die Unfähigkeit, sich innerhalb der Oppositionsallianz zu einigen. Die Zeit hat ihnen unweigerlich und folgerichtig die Entscheidung abgenommen.«

Die MUD hatte wochenlang debattiert, auf welchem Weg man Maduro stürzen wolle. Schließlich einigte man sich auf einen Katalog aus drei parallelen Strategien. Vor allem der radikale Flügel setzte auf Straßenaktionen, mit denen der Präsident zum »Rücktritt« aufgefordert werden sollte. Da ein freiwilliger Amtsverzicht kaum denkbar war, spekulierten die Verfechter dieser Lösung offenkundig auf einen Staatsstreich. Die venezolanische Armee hat sich jedoch das ganze Jahr über als verfassungstreu und loyal zur Regierung erwiesen. Eine zweite Option war, im Parlament eine Verfassungsänderung durchzubringen, durch die Maduros Amtszeit verkürzt werden sollte. Dem schob jedoch der Oberste Gerichtshof (TSJ) einen Riegel vor und stellte fest, dass ein solcher Schritt erst mit der nächsten Präsidentenwahl greifen würde. Schließlich konzentrierte sich die MUD auf die Durchsetzung eines Amtsenthebungsreferendums gegen Maduro, wie es in der venezolanischen Verfassung festgelegt ist.

Nun fiel den Rechten jedoch ihre Zögerlichkeit zu Jahresbeginn auf die Füße, denn der Staatsapparat spielte auf Zeit und reizte alle gesetzlich vorgesehenen Fristen aus. Im Oktober stoppten schließlich regionale Gerichte nach Fälschungsvorwürfen die Sammlung der Unterschriften von 20 Prozent aller Wahlberechtigten, die für die Durchsetzung des Referendums nötig wären. Die Richter hatten Unregelmäßigkeiten festgestellt und verlangten, dass diese erst »behoben« werden müssten, bevor die Sammlung beginnen könnte. Spätestens damit war endgültig klar, dass das Referendum nicht mehr 2016 durchgeführt werden würde. Damit jedoch ist es für die Opposition wertlos. Am 11. Januar beginnen nämlich die letzten zwei Jahre der Amtszeit Maduros. Sollte er in diesen 24 Monaten vorzeitig ausscheiden, gibt es nach Vorgaben der Verfassung keine Neuwahlen, sondern eine Amtsübernahme durch den Vizepräsidenten, derzeit Aristóbulo Istúriz.

Trotz dieses Erfolges für Maduro und wiederholten Großdemonstrationen der »Chavistas« ist unübersehbar, dass der Zuspruch für das Regierungslager schwächer geworden ist. Die Unzufriedenheit mit der Administration von Maduro reicht bis weit in die eigenen Unterstützerkreise hinein. Der Grund dafür ist klar: Venezuela befreit sich nur langsam aus einer verheerenden Wirtschafts- und Finanzkrise, von der es in den vergangenen zwei Jahren geprägt wurde. Der Verfall der Erdölpreise auf dem Weltmarkt leerte die Staatskassen, denn noch immer ist das Land von den Rohstoffexporten abhängig. Alle Versuche in den letzten Jahrzehnten, die Wirtschaft zu diversifizieren, sind in Ansätzen steckengeblieben. Auch die Landwirtschaft ist nach wie vor unterentwickelt, so dass ein Großteil der Lebensmittel und Waren des täglichen Bedarfs importiert werden muss. Die Kontrolle über diese Einfuhren haben nach wie vor vor allem private Handelsketten, denen ihre Profite weit wichtiger sind als eine bezahlbare Versorgung der Bevölkerung. Maduro wirft den Lebensmittelunternehmen wie dem Quasimonopolisten Polar deshalb regelmäßig einen »Wirtschaftskrieg« gegen seine Regierung vor und droht mit Enteignungen. Wirklich durchgegriffen wurde jedoch kaum.

Eigentlich werden die Preise von Grundnahrungsmitteln in Venezuela staatlich festgelegt. Genau diese Produkte waren es, die in den normalen Geschäften kaum zu bekommen waren. Dagegen herrschte selten Knappheit an Waren, die nicht zum regulierten »Korb« gehören. So fehlte zwar Toilettenpapier, teure Papierservietten waren jedoch erhältlich. Trotzdem argumentierten die Unternehmen damit, dass sie die fehlenden Produkte nicht anbieten könnten, weil ihnen infolge der Währungskontrolle die nötigen Devisen für Importe fehlten.

Im ersten Halbjahr 2016 spitzte sich die Lage weiter zu, weil zu den wirtschaftlichen Problemen noch eine monatelange Dürre kam. Die Energieversorgung Venezuelas stützt sich zu einem Großteil auf Wasserkraftwerke, die kaum noch arbeiten konnten. Die Folge waren Stromabschaltungen, das Land stand am Rande eines Kollapses. Erst in den Sommermonaten entspannte sich die Lage. Dazu trugen auch die »Lokalen Komitees für Versorgung und Vertrieb« (CLAP) bei, die Maduro im April ins Leben rief. Über diese Gruppen werden Waren des Grundbedarfs – vor allem Lebensmittel und Hygieneartikel – zu staatlich subventionierten Preisen vertrieben. Reis, Mehl, Bohnen und Milch kosten die Verbraucher so nur ein Bruchteil dessen, was auf dem Schwarzmarkt verlangt wird.

Zum Jahresende wagte Maduro einen Schlag gegen Währungsspekulation und Inflation. Am 11. Dezember verkündete er, dass der 100-Bolívares-Schein, die bislang höchste Banknote des Landes, innerhalb von 72 Stunden seine Gültigkeit verliere. Die Venezolaner könnten ihr Geld in den Filialen der Zentralbank umtauschen. Die Aktion richtete sich gegen Schwarzhändler, die Millionen dieser Geldscheine nach Kolumbien verschoben hatten, um die venezolanische Wirtschaft zu untergraben. Um einen Rückfluss des Geldes zu verhindern, wurden die Grenzübergänge zwischen den beiden Nachbarländern geschlossen. Ersetzt werden sollen die Hunderter durch neue Geldscheine im Wert von 500, 1.000, 2.000, 5.000, 10.000 und 20.000 Bolívares. Allerdings verzögerte sich die Auslieferung der unter anderem in Schweden gedruckten neuen Scheine. So drohte ein fast völliges Fehlen von Bargeld. Maduro zog die Reißleine, verlängerte die Gültigkeit des Hunderters bis zum 2. Januar – und sprach von »internationaler Sabotage«. Andere vermuten hingegen einen weiteren Fall schlechter Planung und Koordination im Regierungsapparat.

Trotzdem geht Maduro davon aus, dass die schwierigste Phase seiner Amtszeit überwunden ist. In einer am 23. Dezember vom staatlichen Fernsehen VTV verbreiteten Weihnachtsbotschaft kündigte er an, 2017 werde »das Jahr unseres siegreichen und unzerstörbaren Venezuela«.

Erschienen am 31. Dezember 2016 in der Tageszeitung junge Welt