Zweckoptimismus löst keine Probleme

Auf seiner Jahrespressekonferenz gab sich der Reederverband VDR Mitte März betont optimistisch. „Es ist großartig, dass immer mehr Jugendliche sich für eine Ausbildung in der Schifffahrt begeistern“, verkündete VDR-Präsidentin Gaby Bornheim. Anlass für die Erfolgsmeldung war, dass nach Zählung des VDR im vergangenen Jahr die Zahl der Neueinsteiger*innen bei der seemännischen Ausbildung um elf Prozent gestiegen sei, auf See von 377 auf 418 und an Land – für den Ausbildungsberuf Schifffahrtskaufmann/-frau von 192 auf 214.

Tatsächlich jedoch gibt es keinen Grund zum Jubeln. Man muss auf der Homepage des Reederverbandes nur die nächste Grafik ansehen, um festzustellen, dass die Zahl der  Besatzungsmitglieder in der deutschen Seeschifffahrt wieder unter 7.000 gefallen ist. Am 31. Dezember 2023 waren 4.412 deutsche und 2.552 ausländische Kolleginnen und Kollegen in Deutschland sozialversicherungspflichtig an Bord beschäftigt, insgesamt 6.964. Das sind 115 weniger als ein Jahr zuvor. Von einer Trendwende kann da wohl kaum die Rede sein, auch wenn die Zahlen Ende 2021 noch geringer waren.

Die Zentrale Heuerstelle Hamburg der Bundesagentur für Arbeit verzeichnete im März 19 Prozent weniger Bewerber*innen für seemännische Berufe als ein Jahr zuvor und konstatierte, dass auf dem inländischen seemännischen Arbeitsmarkt für keinen Beruf ausreichend Seeleute zur Verfügung stehen. Das merken auch die Reedereien: Nur noch ein Drittel hat nach eigenen Angaben keine Probleme, benötigtes Personal zu finden. 58 Prozent antworteten in der PwC-Reederstudie 2023, dass freie Stellen nur teilweise besetzt werden konnten, und neun Prozent berichteten sogar von erheblichen personellen Lücken, besonders bei den höheren Rängen. „Mittel- bis langfristig könnte der derzeitige Mangel an Kapitän*innen und Offizier*innen zu einem Mangel an Lots*innen führen, was die Leistungsfähigkeit deutscher Häfen beeinträchtigen würde,“ weist das Beratungsunternehmen PwC auf eine der möglichen Folgen hin. Aber auch den maritimen Behörden und Dienststellen fällt es zunehmend schwer,  erfahrenes Personal zu finden.

Diese Krise ist hausgemacht, Reedereien und Politik müssen sich an die eigene Nase fassen. Über Jahrzehnte wurde Ausbildungswilligen signalisiert, dass man kein Interesse an ihnen hatte und lieber billigere Arbeitskräfte aus dem Ausland rekrutieren wollte. Schon in den 1980er Jahren warnten die Gewerkschaften deshalb angesichts sinkender Bewerber- und Auszubildendenzahlen vor einer Beschäftigungskrise, die durch die Einführung der eigenen deutschen Billigflagge in Form des Zweitregisters („Internationales Seeschifffahrtsregister“) noch verschärft wurde. Dagegen gerichtete Klagen vor dem Bundesverfassungsgericht hatten leider keinen grundsätzlichen Erfolg. Berufsanfänger*innen hatten Schwierigkeiten, ihre Patente auszufahren, weil es für sie keine Stellen gab. In der Schiffsbesetzungsverordnung wurde 2016 die Zahl der einheimischen Seeleute, die mindestens an Bord sein müssen, von vier auf zwei reduziert. „Die Bundesregierung will deutsche Seeleute zum Auslaufmodell machen“, warnte damals schon ver.di-Bundesvorstandsmitglied Christine Behle.

Zusätzlich gärt es unter den Kolleg*innen, die noch in der deutschen Schifffahrt arbeiten. Viele denken über einen Wechsel nach. Es ist höchste Zeit, das Ruder herumzureißen. Dazu gehört, für die Ausbildung in maritimen Berufen zu werben – hier gibt es gute Ansätze –, aber auch, die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Seeleute spürbar und sichtbar zu verbessern. Dabei geht es nicht nur ums Geld, aber auch.

Erschienen in der Waterfront Nr. 1/2024