Flagge zeigen

Es ist ein gewohntes Bild: Am Heck eines Schiffes weht die Flagge des Landes, in dem es registriert ist. Damit soll auch in internationalen Gewässern und in den angelaufenen Häfen deutlich gemacht werden, welche Rechtsordnung an Bord gilt. Führt ein Schiff die deutsche Flagge, gelten deutsche Gesetze und Bestimmungen. Und eigentlich ist die Sache ganz einfach geregelt: Wenn Deutsche ein Seeschiff besitzen, muss (!) dieses die Bundesflagge führen. Das Flaggenrechtsgesetz kennt da in Paragraf 1 keine Ausnahme.

Das entspricht auch dem Völkerrecht. Im 1982 verabschiedeten Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen heißt es in Artikel 91: „Schiffe besitzen die Staatszugehörigkeit des Staates, dessen Flagge zu führen sie berechtigt sind. Zwischen dem Staat und dem Schiff muss eine echte Verbindung bestehen.“

Tatsächlich ist die Lage aber eine völlig andere. Ende 2023 führten von knapp 1.700 deutschen Handelsschiffen nur 259 die Bundesflagge – ein mageres Sechstel. Über 400 Schiffe deutscher Reedereien fahren unter der Flagge des Karibikstaates Antigua und Barbuda, 360 sind im afrikanischen Liberia registriert. Aber wie kann das sein, wenn Deutsche doch verpflichtet sind, dass ihre Schiffe die deutsche Flagge führen? Und wo ist die „echte Verbindung“ deutscher Reedereien in die Karibik oder nach Westafrika?

Der Gesetzgeber hat den Reedern die Möglichkeit geschaffen, sich von den deutschen Gesetzen freizukaufen. Das Flaggengesetz räumt dem Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrographie (BSH) die Möglichkeit ein, deutschen Reedern oder Ausrüstern auf deren Antrag für maximal zwei Jahre das Führen einer ausländischen Flagge zu erlauben. Was wohl mal als Ausnahme gedacht war, hat längst ein Eigenleben entwickelt, denn der Antrag kann nach Ablauf der zwei Jahre einfach neu gestellt werden, und vom BSH werden die Anträge im Normalfall durchgewunken.

Als Ausgleich wird von den Schiffseignern verlangt, auf jedem ausgeflaggten Schiff mindestens einen Ausbildungsplatz für Schiffsmechaniker*innen oder Offiziersassistent*innen  bereitzuhalten. Oder auch nicht, denn wenn sie das nicht wollen, zeigt sich der Gesetzgeber auch hier großzügig. Die Reedereien dürfen einen Ablösebetrag an die vom Reederverband gegründete „Stiftung Schifffahrtsstandort Deutschland“ überweisen und sich so von der Ausbildungsverpflichtung freikaufen. Die vom BSH festgelegte Höhe dieses Lösegeldes liegt aktuell je nach Schiffsgröße zwischen gut 2.000 und knapp 20.000 Euro im Jahr. Das wird von den Reedern als Einladung verstanden, ihre Schiffe in Ländern zu registrieren, die zum Beispiel durch niedrige Steuern, schwache Sozialstandards und fehlende Umweltvorschriften einen  kostengünstigeren Betrieb erlauben – eben Billigflaggen.

Ein weiterer Grund: Die Billigflaggenstaaten gestatten es den Reedern, Seeleute zu geringeren Heuern zu beschäftigen, als dies im eigentlichen Heimatland möglich wäre. Die Internationale Transportarbeiter-Föderation (ITF) hat 42 Länder zu Billigflaggen erklärt. Neben bekannten Kandidaten wie Bahamas, Liberia oder Zypern ist auch Deutschland aufgeführt – denn das 1989 eingeführte deutsche „Internationale Schifffahrtsregister“ (ISR) erlaubt es den Reedern, die Besatzung außerhalb deutscher Arbeits- und Tarifbestimmungen zu beschäftigen, ihnen also weniger zu bezahlen. Fast die Hälfte der 259 Schiffe, die noch unter deutscher Flagge fahren, sind in dieses Zweitregister eingetragen. Volle Geltung haben die deutschen Tarifverträge und Gehaltsvorschriften deshalb nur noch auf 136 Schiffen – das sind magere 7,6 Prozent der deutschen Handelsflotte.

Die Bundesregierung hat gemerkt, dass es so nicht weitergeht und Maßnahmen angekündigt, um die „deutsche Flagge zu stärken“. Die Rede ist von Bürokratieabbau und ähnlichem – doch leider verstecken sich hinter den ersten bekanntgewordenen Ideen vor allem weitere Geschenke an die Schiffseigner, oft zu Lasten der Seeleute. Man orientiert sich ausdrücklich an der Praxis in anderen Ländern – also den Billigflaggenstaaten. Einen Wettlauf um die niedrigsten Standards werden aber vor allem die Kolleg*innen an Bord verlieren. Das muss verhindert werden!

Stattdessen gäbe es andere Ansatzpunkte. Als zum Beispiel 1998 die Tonnagesteuer eingeführt wurde, forderte die damalige Bundesregierung von den Reedern im Gegenzug, bis Ende 2010 wieder mindestens 600 Schiffe unter deutscher Flagge zu fahren. Dieses Ziel wurde verfehlt – zumal das Führen der Bundesflagge keine Voraussetzung für die Inanspruchnahme der Tonnagesteuer ist. Wie wäre es denn damit, solche Steuergeschenke auf Schiffe zu beschränken, die unter der deutschen Flagge fahren?

Erschienen in der Waterfront Nr. 1/2024