Schatten der Geschichte

Zum ersten Mal in der Geschichte Chiles treten bei einer Präsidentschaftswahl zwei Frauen im Kampf um das höchste Staatsamt an. Nachdem die Opposition aus linken und zentristischen Parteien Ende Juni die frühere Präsidentin Michelle Bachelet für die Wahl am 17. November nominiert hat, geht für das Regierungslager nun Evelyn Matthei ins Rennen.

 

Eigentlich hatten sich die Rechtsparteien UDI und RN, deren Wurzeln bis in die Zeit der Pinochet-Diktatur zurückreichen, bei einer Vorwahl für Pablo Longueira als Kandidaten für die Nachfolge von Staatschef Sebastián Piñera, der nicht wieder antreten darf, entschieden. Dieser trat jedoch am 17. Juli aus Gesundheitsgründen von der Kandidatur zurück und löste damit ein »Erdbeben« in seinem Lager aus. Zwar nominierte die UDI umgehend die bisherige Arbeitsministerin Matthei als neue Kandidatin, doch die RN stellte sich zunächst quer und favorisierte den früheren Verteidigungsminister Andrés Allamand. Dieser erklärte am Dienstag jedoch seinen Verzicht auf ein Antreten, woraufhin sich die RN notgedrungen auf eine Unterstützung Mattheis verständigte, um gegen Bachelet überhaupt noch eine Chance wahren zu können. Diese liegt in den Umfragen weit vorn, ihre Zustimmungswerte betragen einem Bericht der Nachrichtenagentur Europa Press zufolge 75 Prozent, während Matthei nur auf 34 Prozent kommt. Zum Zeitpunkt der Befragung war von einer Kandidatur der Ministerin jedoch noch nicht die Rede gewesen.

Das Duell Bachelet gegen Matthei wird wieder zu einer Auseinandersetzung zwischen Gegnern und Anhängern der Militärdiktatur werden. Der Putsch gegen den demokratisch gewählten sozialistischen Präsidenten Salvador Allende jährt sich im September zum 40. Mal. Und das chilenische Drama spiegelt sich in der Familiengeschichte beider Kandidatinnen, die sich schon als Kinder gekannt hatten, unmittelbar wieder. Die Väter von beiden waren Generäle der chilenischen Luftwaffe. Bachelets Vater Alberto blieb aber während des Putsches loyal zu Allende und wurde deswegen nach dem Staatsstreich von den Schergen der Diktatur verhaftet und gefoltert. Er starb wenige Monate später im Gefängnis an den Folgen der Mißhandlungen. Die damals 22jährige Michelle Bachelet mußte gemeinsam mit ihrer Mutter Ángela Jeria in den Untergrund gehen. 1975 wurden beide verhaftet und gefoltert, durften schließlich aber Chile verlassen. Über Australien führte sie der Weg in die DDR, wo Michelle an der Berliner Humboldt-Universität ihr Medizinstudium abschließen konnte.

Der Lebensweg von Evelyn Matthei verlief völlig anders. Als Tochter des Generals Fernando Matthei, der sich auf die Seite der Putschisten gestellt hatte, dafür von Pinochet 1976 mit einem Ministerposten belohnt wurde und ab 1978 als Oberkommandierender der Luftwaffe selbst Mitglied der Junta war, lebte sie ein sorgloses Leben in Chile. Anfang Juli holte die Vergangenheit ihren längst pensionierten Vater ein. Aufgrund einer Anklage, er sei direkt an den Folterungen Alberto Bachelets beteiligt gewesen, mußte sich der General einer Gegenüberstellung mit der früheren politischen Gefangenen Carmen Gloria Díaz und ehemaligen Offizieren stellen. Während Bachelet in der Akademie der Luftwaffe gefangengehalten und mißhandelt wurde, war Matthei deren Direktor. Er könne deshalb seine direkte Verantwortung nicht abstreiten, erklärte Klägeranwalt Eduardo Contreras gegenüber dem Sender Radio Cooperativa.

Erschienen am 25. Juli 2013 in der Tageszeitung junge Welt