»Besseren Sozialismus durch mehr Sozialismus«

Gespräch mit Blanca Rosa Pampín, Vizepräsidentin der Nationalen Assoziation der Ökonomen und Buchhalter Kubas

Sie sind Vizepräsidentin der Nationalen Assoziation der Ökonomen und Buchhalter Kubas. Womit beschäftigt sich Ihre Organisation?

Wir sind mit 80000 Mitgliedern im ganzen Land vertreten, so daß wir überall direkten Einfluß nehmen können. Darüber hinaus haben wir einen Beobach­terstatus bei den Vereinten Nationen und üben derzeit den Vorsitz der Lateinamerikanischen Ökonomenvereinigung aus. Somit haben wir auch Einfluß darauf, in welche Richtung sich die kubanische Wirtschaftspolitik auf anderen Kontinenten entwickelt.

 

Unsere zentrale Aufgabe derzeit ist, einen Beitrag zur Aktualisierung des Gesellschaftssystems unseres Landes zu leisten. Alle unsere Mitglieder haben sich in Diskussionsrunden, an ihren Arbeitsplätzen, an Bildungseinrichtungen, in den Stadtvierteln an der Ausarbeitung der Lineamientos, der Grundzüge dieser Aktualisierung, beteiligt. Ich selbst habe an 20 der insgesamt 63000 Diskussionsrunden zu diesem Thema teilgenommen, insgesamt beteiligten sich acht Millionen Kubaner daran. Es gab drei Millionen Änderungsvorschläge, die alle berücksichtigt wurden. Unsere Mitglieder hatten die Aufgabe, in den Versammlungen erklärend tätig zu sein, denn manchmal kennen die Menschen bestimmte ökonomische Fachausdrücke nicht. Schließlich wurden 68 Prozent des ursprünglich zur Diskussion gestellten Dokuments verändert. Und es gab bei der Debatte und Verabschiedung des Dokuments auf dem Parteitag der Kommunistischen Partei Kubas weitere Veränderungen.

Nach Abschluß der Diskussion haben wir uns an der Vorbereitung, Durchführung und Überprüfung all der beschlossenen Aufgaben beteiligt. Unser Präsident, der Genosse Raúl Castro, hat uns als Ökonomen ganz direkt aufgerufen, uns bei der Umsetzung zu engagieren. Wir als Organisation wollten uns natürlich ohnehin beteiligen, aber sein direkter Aufruf war uns sehr wichtig. Manche der Veränderungen sind sehr schnell und einfach umzusetzen, bei anderen sind Gesetzesänderungen notwendig, sie brauchen mehr Zeit.

Und wohin führen all diese Veränderungen?

Was klar sein muß: Die Aktualisierung des kubanischen Wirtschaftssystems bedeutet keine politische Reform. Es geht darum, unseren Sozialismus zu perfektionieren, darum, den Sozialismus des 21. Jahrhunderts zu schaffen. Denn wir befinden uns heute im 21. Jahrhundert, und der Sozialismus muß der Zeit angemessen sein. Wir werden weiter Planwirtschaft haben, aber mit einer flexibleren Planung. Wir müssen den Markt berücksichtigen, denn der Markt existiert. Hinzu kommen äußere Bedrohungen wie die Folgen der Blockade. Seit 51 Jahren erleiden wir die Wirtschafts- und Finanzblockade durch die USA, die Tag für Tag alle Bereiche unserer Ökonomie beeinträchtigt und bislang Schäden in Höhe von einer Billion Dollar verursacht hat. Die Blockade ist in den Vereinten Nationen mehrfach diskutiert und von der großen Mehrheit der Staaten verurteilt worden.

Diese äußere Bedrohung müssen wir ebenso berücksichtigen wie die Krisensituation, die die Welt derzeit erlebt: Finanzkrise, Energiekrise, Umweltkrise, soziale Krise, … Wir leben ja nicht unter einer Glaskugel, diese äußeren Krisen treffen auch uns. Im Inneren müssen wir natürlich ebenfalls Probleme lösen und die wirtschaftliche Effizienz in allen Bereichen erhöhen. Dasselbe gilt für die Arbeitsproduktivität, wir brauchen ein realistischeres Verhältnis zwischen Arbeit, Gehalt und Produktivität, um dadurch höhere Motivation für die Arbeit zu erreichen.

Wir haben bestimmte Prinzipien. 68 Prozent der bebauten Ländereien Kubas sind in den Händen landwirtschaftlicher Kooperativen, während der Staat selbst sehr wenige Ländereien besitzt. Weiter fördern wir die selbständige Arbeit auf eigene Rechnung, der bereits 35 Prozent unserer Arbeiter nachgehen. Der Staat wird jedoch immer das Eigentum über die fundamentalen Aktivitäten des Landes beibehalten, zum Beispiel die Nickelproduktion, den Tourismus oder die Biotechnologie. Aber wird fördern die Schaffung von Kooperativen in Bereichen, die über die Landwirtschaft hinausgehen, so bei den Dienstleistungen, zum Beispiel Friseurgeschäfte oder Handwerker. Es gibt keinen Grund, warum der Staat einen Teil seiner Energie für solche Aufgaben einsetzen sollte.

Unser Stärke ist, daß wir auf Menschen zählen können, die über ein hohes Bildungsniveau verfügen und auch wissenschaftlich sehr fortgeschritten sind. Wir haben in den verschiedenen Bereichen zahlreiche Forschungszentren, und auch das Ministerium für Wissenschaft, Technologie und Umweltschutz leistet eine sehr ernsthafte Arbeit. So konnten wir im Bereich der Biotechnologie und der Medikamentenherstellung große Fortschritte verzeichnen.

Ein Problem, das wir allerdings haben, ist das steigende Durchschnittsalter der Bevölkerung. Dieses ist ein Erfolg unseres Gesundheitswesens, und wir sind natürlich sehr stolz darauf, daß die Lebenserwartung unserer Bevölkerung im Durchschnitt bei 79 Jahren liegt. Die Hauptursachen für den Tod eines Menschen sind in Kuba dieselben wie in entwickelten Staaten: Herzinfarkte, Krebs. Aber eine älter werdende Gesellschaft bringt auch eine Überalterung der Arbeitskräfte mit sich. Wir müssen dieses Problem also angehen und dafür sorgen, daß wir die nötige Zahl an Arbeitskräften haben, und zugleich unsere sozialen Errungenschaften bewahren können. Dank unseres sozialistischen Systems stehen wir im Weltmaßstab auf Platz 51 der menschlichen Entwicklung, und damit auf einer Stufe mit entwickelten Staaten. Die Kindersterblichkeit liegt bei 4,6 auf 1000 Lebendgeburten und ist damit die niedrigste des Kontinents. Die Gesundheitsversorgung ist komplett kostenfrei, ebenso wie die Bildung. Der Anteil von Kindern, die zur Schule gehen, liegt bei 100 Prozent, und sie besuchen die Schule im Durchschnitt zwölf Jahre lang. Unsere Universitäten haben mehr als eine Million Jugendliche abgeschlossen. Wir haben auch große Erfolge bei der Stärkung der Rolle der Frau. Weltweit sind wir das Land mit dem zweitgrößten Anteil von Frauen in den Parlamenten, ein Drittel unserer Ministerien wird von Frauen geführt. Und das wird weiter zunehmen. Wenn Sie sich ansehen, wer derzeit unsere Universitäten besucht, dann werden Sie sehen, daß 66 Prozent der künftigen Akademiker Frauen sind.

Wollen die Männer in Kuba nicht studieren? Oder wie erklärt sich dieser hohe Anteil?

Wenn Chancengleichheit besteht, sind wir Frauen eben intelligenter. (Lacht) Wenn sich uns Möglichkeiten bieten, nutzen wir sie wohl besser… Nein, auch die Männer studieren. Aber die Frauen besetzen einen Großteil der Studiengänge, darunter auch immer mehr solche, die früher kaum von Frauen belegt wurden, technische, mechanische Fächer. Früher haben die Frauen eher Philosophie oder solche Dinge studiert, heute nicht mehr.

Schlagen die Frauen nach ihrem Studium dann auch beruflich die Karrieren ein, für die sie ausgebildet wurden? Einen hohen Frauenanteil an den Universitäten gibt es auch in anderen Ländern, aber in den führenden Positionen von Unternehmen und Staat sitzen trotzdem vor allem Männer…

In Kuba hat sich gezeigt, daß die Frauen disziplinierter und weniger korrupt sind als die Männer. Sie arbeiten mehr als die Männer. Das liegt daran, daß die Folgen davon direkt ihren Familien zugute kommen, zum Beispiel wenn sie kleine Kinder oder alte Leute zu betreuen haben. Es ist noch so, daß die Frau heute in Kuba zwischen allen steht, zwischen ihren Kindern, ihren Eltern und Großeltern, aber tatsächlich erfüllt die Frau ihre Aufgaben. Wir müssen erreichen, daß auch der Ehemann seinen Teil der Aufgaben erfüllt.

Wir haben im Mutterschutzgesetz die Zeiten ausgeweitet, in der die Mutter nach der Geburt bei ihrem Kind bleiben kann – und die Eltern können selbst entscheiden, ob die Mutter oder der Vater zu Hause bleibt. Aber es gibt natürlich immer bessere und schlechtere Ehemänner, es gibt Machos und solche, die keine sind.

Kommen wir zur Frage der Lebensmittelproduktion …

Das ist eine weitere Herausforderung, vor der wir stehen. Wir müssen die Lebensmittelproduktion steigern. Wir müssen Lebensmittelsouveränität erreichen. Unter dem Banner der »Grünen Revolution« haben wir in Kuba viele Hilfsmittel zur Entwicklung der Landwirtschaft eingesetzt: Düngemittel, Pestizide. Nun jedoch entwickeln wir eine ökologischere Landwirtschaft, die nicht nur verträglicher, sondern auch unseren wirtschaftlichen Möglichkeiten besser angemessen ist. Die Erdölpreise sind um 25 Prozent gestiegen. Düngemittel und Pestizide werden von den transnationalen Konzernen kontrolliert, und die haben die Preise dafür ebenfalls angehoben.

Die Lebensmittelsouveränität zu erreichen ist aber entscheidend für uns. Präsident Raúl Castro hat einmal gesagt, daß die Bohnen ebenso wichtig sind wie die Kanonen. Wir müssen unsere Ernährung selber sicherstellen, wir dürfen nicht von Importen abhängen und jedes Jahr Millionen Dollar ausgeben müssen, um die Bevölkerung zu ernähren. Wir verfügen über natürliche Bedingungen, die wir nutzen müssen.

Bestimmten Bereichen ist Priorität eingeräumt worden, zum Beispiel der Nickelproduktion und dem Tourismus, denn wir haben dafür die angemessenen natürlichen Bedingungen. Große Erfolge haben wir in der Biotechnologie zu verzeichnen, nicht nur im Bereich der Forschung, sondern inzwischen auch in der Produktion und in der Vermarktung biotechnologischer Produkte. Und wir behalten unsere Solidarität und Kooperation mit dem gesamten Kontinent bei. Kuba hat derzeit die Präsidentschaft der Lateinamerikanischen und Karibischen Staatengemeinschaft, CELAC, inne – das ist sehr wichtig – und wir sind Mitglied in der von Chávez und Fidel gegründeten Bolivarischen Allianz für die Völker Unseres Amerikas, ALBA. Das hat tatsächlich dazu beigetragen, uns den anderen lateinamerikanischen Ländern anzunähern. Wir sind heute nicht mehr isoliert wie in den 60er Jahren, als sie uns aus der OAS geworfen haben und auf Druck der USA alle Länder Lateinamerikas ihre Beziehungen mit Kuba abgebrochen haben. Heute plappern die Länder Lateinamerikas nicht mehr nach, was ihnen aus Washington diktiert wird.

Kuba hat zur Entwicklung der anderen Länder beigetragen. Sieben Millionen Menschen haben mit der kubanischen Methode »Yo Sí Puedo« (Ja, ich kann) lesen und schreiben gelernt.

Kuba schickt Tausende Ärzte, Lehrer und andere Helfer in alle Welt. Wie kann die kubanische Wirtschaft das aushalten?

In Kuba gibt es die Redensart: Wir geben nicht ab, was übrig bleibt, sondern wir teilen, was wir haben. Vier Prozent unseres Bruttoinlandsprodukts gehen in die internationale Zusammenarbeit. Sie erinnern sich an das Erdbeben in Haiti? Kubanische Ärzte waren schon vorher dort, nach dem Beben kamen Hunderte zusätzliche Ärzte dorthin – und sind bis heute dort. Zu teilen, was wir haben, ist für uns sehr wichtig, denn in der Vergangenheit habt ihr, die DDR, auch vieles mit uns geteilt. Die ersten Ärzte, die wir nach der Revolution bekamen, wurden in der DDR und der Tschechoslowakei ausgebildet. Sozialismus bedeutet Zusammenarbeit und Solidarität, deshalb können wir beides nicht aufgeben.

Zu Beginn unseres Gesprächs haben Sie den »Sozialismus des 21. Jahrhunderts« erwähnt. Dieses Konzept wird oft als Alternative zu dem im 20. Jahrhundert errichteten Sozialismus dargestellt. Wie sehen das die Kubaner?

Für uns bedeutet »Sozialismus des 21. Jahrhunderts« denselben Sozialismus wie immer, aber angepaßt an die heutigen Bedingungen. »Sozialismus des 21. Jahrhunderts« bedeutet in keinem Fall, unseren Sozialismus aufzugeben. Ganz im Gegenteil: Alle Maßnahmen, die wir im Rahmen der Aktualisierung unseres Systems ergreifen, dient dazu, mehr und besseren Sozialismus zu haben, aber entsprechend der Bedingungen des 21. Jahrhunderts. Die Bedingungen und Kräfteverhältnisse haben sich geändert. Wir leben in einer neoliberal globalisierten Welt, in der versucht wird, alles zu privatisieren. Unter diesen Umständen werden wir die Flexibilität unseres Sozialismus beweisen. Aber, wie ich ja bereits gesagt habe, wir planen keine politischen Reformen, sondern wir schaffen besseren Sozialismus durch mehr Sozialismus.

In Lateinamerika gibt es ganz unterschiedliche Vorstellungen von Sozialismus. Nicht nur Kuba baut ihn auf, auch in Venezuela wird der Aufbau des Sozialismus angestrebt, ebenso in Bolivien und in Ecuador. Aber die jeweils verfolgten Konzeptionen unterscheiden sich stark voneinander, je nach dem Bedingungen vor Ort. Gibt es unter den ALBA-Staaten diesbezüglich Diskussionen?

Die Gründung der Bolivarischen Allianz für die Völker Unseres Amerikas und die fortschrittlichen Entwicklungen, die es in den meisten Ländern unserer Region gibt, befördern eine solche Debatte natürlich. Es gibt bei allen Unterschieden sehr viele Gemeinsamkeiten, auf die auch die Präsidenten hingewiesen haben. Wenn Sie den Diskurs des jeweiligen Staatspräsidenten analysieren, werden Sie auf sehr viele Gemeinsamkeiten stoßen, auch wenn jeder Prozeß in jedem Land natürlich eigene Charakterzüge trägt.

Eine Frage, die immer wieder aufkommt, ist das Problem der zwei Währungen in Kuba: des nationalen Peso und des CUC, des konvertiblen Peso. Wie entwickelt sich die Diskussion darum?

Die Frage der doppelten Währung ist eines der zentralen Themen in den Lineamientos, aber es handelt sich um ein extrem kompliziertes Problem, das sehr genau analysiert werden muß. Das Problem ist nicht so sehr die doppelte Währung, das Problem ist der Wechselkurs zwischen beiden. In den Lineamientos ist klar das Ziel der Vereinigung beider Währungen festgeschrieben. In anderen Ländern, in denen ähnliche Probleme auftreten, wie sie Kuba in den 90er Jahren nach dem Wegfall des sozialistischen Lagers bewältigen mußte, wird einfach die Währung abgewertet. Das bedeutet für die einfachen Menschen, daß sie gestern noch 20 Peso in der Tasche hatten, die heute morgen nur noch drei Pesos wert sind. In Kuba wollten wir das nicht machen, um die Bevölkerung nicht noch mehr zu belasten. Deshalb wurde die doppelte Währung etabliert, und nun müssen wir die Vereinigung unserer beiden Währungen erreichen, aber das ist – wie gesagt – kompliziert und muß sehr gut vorbereitet werden.

Es wurden bereits feste Wechselkurse etabliert, damit zum Beispiel die Bauern den Hotels ihre Produkte verkaufen können. Die Hotels rechnen natürlich in Devisen ab, die Bauern in der nationalen Währung.

Welche Rolle spielt in diesen Diskussionen der SUCRE, das Projekt einer gemeinsamen lateinamerikanischen Währung?

Beim SUCRE handelt es sich zunächst einmal um eine Rechnungswährung, die für den Handel zwischen den Mitgliedsstaaten der ALBA eingesetzt wird. Der Name steht ja für Einheitliches System für regionale Wirtschaftskompensation, aber Venezuelas Präsident Hugo Chávez hat diesen Namen natürlich mit Blick auf den Nationalhelden José de Sucre gewählt, so wie ALBA eine Antwort auf ALCA, die Amerikanische Freihandelszone war. Und außerdem war Sucre auch der Name der ecuadorianischen Landeswährung, die 2000 für den Dollar aufgegeben wurde.

Generell können wir sagen, daß die Gründung der ALBA und jetzt der Lateinamerikanischen und Karibischen Staatengemeinschaft CELAC ganz wichtige Schritte waren, die die Freihandelszone komplett gestoppt und die Freihandelsabkommen zwischen den USA und einzelnen Ländern erschwert haben. Wir haben die Lehre aus den Erfahrungen der Länder gezogen, die wie Mexiko Freihandelsabkommen eingegangen sind und die Folgen erleiden mußten.

Erschienen am 24. Juli 2013 in der ALBA-Beilage der Tageszeitung junge Welt