junge Welt, 17. Juli 2012

Nie wieder Fukushima!

junge Welt, 17. Juli 2012Rund 200000 Menschen haben am Montag in der japanischen Hauptstadt Tokio gegen das Wiederanfahren der Atomkraftwerke des Landes demonstriert. In nur wenig mehr als zwei Wochen war dies bereits die dritte Großdemonstration in Japan, die sich gegen den Atomkurs der Regierung richtete. Bereits am 29. Juni hatten sich ebenfalls etwa 200000 Menschen vor dem Amtssitz von Ministerpräsident Toshihiko Noda versammelt. Eine Woche darauf, am 6. Juli, nahmen Medienberichten zufolge noch einmal über 150000 Menschen an einer Kundgebung teil. Zudem haben rund 7,4 Millionen Bürger mit ihrer Unterschrift per Resolution einen Ausstieg Japans aus der Nutzung der Kernkraft gefordert.

Bis zum Super-GAU im März 2011 hatte sich eine große Mehrheit der Japaner in Umfragen immer wieder für die Kernenergie ausgesprochen, nur gegen die Entwicklung von Atomwaffen richtete sich vor dem Hintergrund der Atombombenabwürfe auf Hiro­shima und Nagasaki 1945 eine relativ starke Bewegung. Als jedoch nach der Tsunami-Katastrophe das AKW Fuku­shima-Daiichi außer Kontrolle geriet, teilweise explodierte und weite Landstriche radioaktiv verseucht wurden, änderte sich das. Die Regierung nahm zunächst alle 50 Reaktoren des Landes vom Netz, monatelang kam das Land ohne Atomstrom aus. Seit Anfang Juli fährt jedoch die Kansai Electric Power Co (Kepco) die Reaktoren des AKW Oi wieder hoch. Damit setzen sich der Konzern und die Zentralregierung über den Willen der Regionalverwaltungen und der Bevölkerung hinweg.

Murakami Tatsuya, der Bürgermeister des rund 38000 Einwohner zählenden Tokai in der Präfektur Ibaraki, rund 120 Kilometer nördlich von Tokio gelegen und ebenfalls ein AKW-Standort, kritisierte das Vorgehen der Zentralregierung am 5. Juli bei einer Konferenz der Japanischen Kommunistischen Partei (JCP) in Tsukuba: »Wir sind sehr enttäuscht über die Haltung der Politiker, Bürokraten, Wirtschaftsführer und Wissenschaftler, aber ich setze große Hoffnungen in den stärker werdenden Kampf des Volkes gegen die Kernenergiepolitik der Regierung.« Die Antiatomproteste seien bereits zur stärksten Oppositionsbewegung seit den 60er Jahren geworden, sagte der Politiker. »Das japanische Volk, das das Tohoku-Erdbeben und den Atom­unfall von Fukushima erlebt hat, steht gegenüber den sieben Milliarden Menschen, die auf der Welt leben, in der Verantwortung, eine Nation ohne Atomkraftwerke zu schaffen.«

Bei der Kundgebung am Montag wies der bekannte japanische Komponist, Musiker und Schauspieler Ryuichi Sakamoto Erklärungen der Regierung zurück, die Wiederinbetriebnahme der Reaktoren sei zur Energiesicherheit des Landes notwendig. Japan sei schließlich bereits mehr als ein Jahr lang ohne Atomstrom ausgekommen: »Leben ist wichtiger als Geld. Nach Fukushima zu schweigen, ist barbarisch.« Begleitet wurde er von Literaturnobelpreisträger Kenzaburo Oe.

Die atomkritische Ärzteorganisation IPPNW warnt unterdessen vor einer Zunahme von Krebserkrankungen bei Kindern in der Präfektur Fukushima. Wie die deutsche Sektion unter Berufung auf eine Untersuchung der regionalen Gesundheitsbehörde an 38114 Kindern im Alter zwischen null und 18 Jahren mitteilte, seien bei 35 Prozent der untersuchten Kinder Schilddrüsenzysten, bei einem Prozent Schilddrüsenknoten gefunden worden. Die australische Kinderärztin Helen Caldicott warnte, diese müßten als Vorboten von Schilddrüsenkrebs angesehen werden.

Erschienen am 17. Juli 2012 in der Tageszeitung junge Welt