News für den Klassenfeind

Am 1. Oktober 1960 meldete sich auf Mittelwelle 935 Kilohertz (kHz) zum ersten Mal der Deutsche Soldatensender (DSS) zu Wort. Er richtete sich an die Uniformierten der Bundeswehr, wurde jedoch von der Nationalen Volksarmee (NVA) der DDR betrieben. Mit dem erst im Juni 1960 beschlossenen Start kam der Nationale Verteidigungsrat der DDR seinen westlichen Gegnern zuvor: Im Jahr zuvor hatte Bundesverteidigungsminister Franz Josef Strauß (CSU) angeordnet, regelmäßige Rundfunksendungen zu starten, die sich an die Soldaten der NVA wenden sollten. Als Termin dafür hatte »FJS« gerade jenen 1. Oktober 1960 angepeilt und am 4. November 1959 in Rengsdorf im Westerwald die »Radiokompanie 993« aufstellen lassen. Im September 1960 wurde diese mit einem 20 Kilowatt starken Mittelwellensender der Firma Telefunken ausgestattet. Doch der von Strauß erhoffte Propagandasender blieb in den Anfängen stecken. Nur 1962 und 1963 gab es offenbar einige nächtliche Rundfunksendungen, mit denen versucht wurde, auf die Uniformierten der NVA einzuwirken.

Zu diesem Zeitpunkt hatte der aus der DDR funkende Deutsche Soldatensender schon eine treue Hörergemeinde gewinnen können. 1965 schrieb der Spiegel unter Berufung auf Gewährsleute im Bundesverteidigungsministerium, dass nicht weniger als 86 Prozent der Bundeswehr-Soldaten morgens vor Dienstbeginn den Soldatensender einschalteten. Die Radiomacher richteten ihre Studios im früheren Funkhaus Berlin-Grünau ein. Gegenüber ihrer westlichen Konkurrenz verfügten sie über einen vielleicht entscheidenden Vorteil: Bereits seit 1956 wurde in der DDR der Deutsche Freiheitssender 904 betrieben. Er hatte sich zum ersten Mal unmittelbar nach dem Verbot der Kommunistischen Partei Deutschlands gemeldet, als »einziger Sender der Bundesrepublik, der nicht unter Regierungskontrolle steht« (siehe jW vom 16. Januar 2020). Er erfreute sich gerade bei Soldaten der Bundeswehr großer Beliebtheit, woran die NVA-Station anknüpfen sollte.

Beide Stationen teilten sich dieselbe, Medienberichten zufolge 250 Kilowatt starke Sendeanlage in Burg bei Magdeburg. Der Soldatensender meldete sich fünfmal täglich, um 6.15, 12.30, 18.00, 20.15 und 23.30 Uhr. Für die dazwischenliegenden Sendungen des Freiheitssenders mussten Techniker die Antenne auf dessen Frequenz umschalten. Wohl auch deshalb lagen der Freiheitssender auf 904 kHz und der Soldatensender auf 935 kHz eng nebeneinander auf der Skala – und vielen Hörern war es sowieso gleich, welchen von beiden sie gerade empfingen. Beide fesselten ihr meist junges Publikum mit aktueller Tanzmusik, die auch in den öffentlich-rechtlichen Westsendern kaum zu hören war. Jahrzehnte später erzählten Beteiligte schmunzelnd, wie sie in Westberliner Geschäften die neuesten Platten erworben oder auf kommerziellen Sendern wie Radio Luxemburg mitgeschnitten hatten.

Die Hörer in Uniform interessierten außerdem die vom Soldatensender verbreiteten und erstaunlich oft zutreffenden Informationen über angesetzte Nachtübungen, Schikanen von Vorgesetzten oder auch schlüpfrigen Details um Vorgänge in den Kasernen. So berichtete DSS einmal, wie sich die Soldaten der Luftlandeschule Altenstadt mit der Tochter des Wirts vergnügten: »Wenn wir schon nicht die Kantinenpreise drücken können, dann wenigstens das Maskottchen«. Über den Sender gingen auch Kontaktanzeigen junger Frauen, die sich »Brieffreunde« wünschten, sowie Geburtstagsglückwünsche an Wehrpflichtige. Für solche Anliegen nannte der Soldatensender die Adresse Werner Schütz, Postfach 116, Berlin W 8. Das stand für das Hauptpostamt W 8 in der Französischen Straße 9–12 – in der Hauptstadt der DDR. Im Soldatensender nahm man aber gern in Kauf, dass die Adresse nach Westberlin klang.

Zu einem Ritual wurde offenbar auch, die häufigen Abstürze der berüchtigten »Starfighter«-Kampfjets der Luftwaffe zu zelebrieren: Wenn wieder ein Pilot ums Leben gekommen war, wurde auf 935 das Soldatenlied »Ich hatt’ einen Kameraden« gespielt.

Noch 1971 bescheinigte der damalige Leiter des Presse- und Informationszentrums des Bundesverteidigungsministeriums, Brigadegeneral Carl-Gero von Ilsemann, gegenüber dem Spiegel den Funkern aus dem Osten, diese hätten zu Beginn noch geklungen wie die Landser im Zweiten Weltkrieg, das habe sich aber bald geändert: »Mittlerweile haben sie sich eingeschossen.«

Wenige Monate später war Schluss: Im Sommer 1972 verschwand der Deutsche Soldatensender aus dem Äther. In der letzten Sendung, die am 1. Juli gelaufen sein soll, kündigte das Moderatorenpaar »Kathrin« und »Martin« nur an, dass der Sender »aus technischen Gründen« für einige Tage pausieren werde. Tatsächlich war die Einstellung eine Folge der unter Bundeskanzler Willy Brandt eingeleiteten Entspannungspolitik zwischen Ost und West. Wie der Spiegel damals berichtete, hatten sich die Unterhändler Egon Bahr (BRD) und Michael Kohl (DDR) auf ein »Tauschgeschäft« geeinigt: Die Bundeswehr hörte auf, Luftballons mit Propagandamaterial über die Grenze in die DDR zu schicken, dafür schaltete die NVA ihren Sender ab.

Erschienen am 1. Oktober 2020 in der Tageszeitung junge Welt