Keine »Stunde Null«

Der Zweite Weltkrieg ist als der erste große Krieg in die Geschichte eingegangen, in dem der Rundfunk eine wichtige Rolle gespielt hat. Alle Seiten versuchten, das damals neue Medium zu nutzen, um aktuelle Informationen zu verbreiten und um die Bevölkerung im eigenen und in den gegnerischen Ländern zu beeinflussen. Zugleich bot es auch den schnellsten Weg, etwas über die Vorhaben der jeweils anderen Seite zu erfahren. Dazu wurden Abhördienste eingerichtet, die rund um die Uhr protokollierten, was von verbündeten und gegnerischen Radiostationen verbreitet wurde. So stellen die Archive etwa des britischen »BBC Monitoring«, des deutschen »Sonderdienstes Seehaus« oder der von der Schweizer »Abteilung Presse und Funkspruch« betriebenen »Gruppe Ohr« heute – soweit sie inzwischen zugänglich sind – eine wichtige Quelle dar.

In der Schweiz etwa notierten die Überwacher, wie in den letzten Monaten des Krieges eine deutsche Station nach der anderen den Betrieb einstellte. Der Berliner Sender Tegel wurde am 22. April 1945 von der Roten Armee besetzt und abgeschaltet, der Reichssender Hamburg – über den Großadmiral Karl Dönitz am 1. Mai den Tod Hitlers verkündet hatte – stellte den Betrieb am 3. Mai ein, wenige Stunden vor dem Einmarsch der britischen Truppen.

Dönitz, der von Hitler zu seinem Nachfolger ernannt worden war, hatte sich zu diesem Zeitpunkt schon mit seiner »Reichsregierung« nach Flensburg abgesetzt. Der dortige, nur drei Kilowatt starke Sender – der bislang das Programm aus Hamburg übernommen hatte – wurde zum »Reichssender« erklärt und in den letzten Tagen des Krieges zur offiziellen Stimme des Naziregimes. Daneben hatten die Faschisten noch Stationen in Prag, Oslo und Kalundborg bei Kopenhagen.

Am 3. Mai ließ Dönitz über den Flensburger Sender verkünden, dass er die Waffen nicht niederlegen werde. »Der einzige Sinn des Kampfes« sei, »deutsche Menschen, die vor den Sowjetarmeen auf der Flucht oder von diesen bedroht sind, nicht sterben zu lassen«. Das sei die »letzte Pflicht in dem Heldenkampf Deutschlands«. Doch nur vier Tage später, am 7. Mai um 12.45 Uhr, verkündete Flensburg die »bedingungslose Kapitulation der kämpfenden Truppen«. Zwei Stunden später meldete Radio Luxemburg in mehreren Sprachen die Niederlage Nazideutschlands. Der Wehrmachtsstabschef Alfred Jodl habe in Reims die entsprechenden Dokumente unterzeichnet. Die Faschisten in Prag wollten das nicht wahrhaben. Über den noch von ihnen kontrollierten Sender wiesen sie die Kapitulationsmeldung als »Feindpropaganda« zurück, der Kampf gegen »die Russen« werde fortgesetzt.

Trotzdem stand die Nacht vom 7. auf den 8. Mai in Westeuropa und Nordamerika im Zeichen des Sieges. Radio Luxemburg, die BBC und andere berichteten über die Freudenfeste in London, New York und Paris und übertrugen Ansprachen der Staatschefs. Nur bei Radio Moskau standen dagegen die Einnahme Dresdens und mehrerer Ortschaften in Österreich und der Tschechoslowakei durch die Rote Armee im Mittelpunkt der Nachrichten. In der Schweiz notierten die Protokollanten der »Gruppe Ohr« am Abend verwundert: »Die Russland-Abhörer machen darauf aufmerksam, dass die Sendungen aus Russland weder eine Erwähnung der Kapitulation noch der Reden Churchills, Trumans und de Gaulles oder des V-Tages brachten.«

Erst in der Nacht zum 9. Mai meldete Radio Moskau die bedingungslose Kapitulation Nazideutschlands, gefolgt von den Nationalhymnen der Siegermächte. Die Sowjetunion hatte die Kapitulation von Reims nicht akzeptiert, weil sie nur von Jodl unterzeichnet worden war, die anderen deutschen Befehlshaber jedoch fehlten. Zudem sollte der Oberkommandierende der Roten Armee, Marschall Georgi Schukow, bei der Unterzeichnung anwesend sein. So gab es am späten Abend des 8. Mai eine weitere Zeremonie in Berlin, bei der für die Deutschen Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel, Admiral Hans-Georg von Friedeburg und Generaloberst Hans-Jürgen Stumpff die Kapitulationsurkunde unterzeichneten. Durch die Zeitverschiebung schrieb man in Moskau schon den 9. Mai, weshalb man im Westen den 8. Mai feiert, in der Sowjetunion und deren Nachfolgestaaten dagegen bis heute der 9. Mai als Tag des Sieges begangen wird.

Noch am selben Tag warnte der von der KPD in Moskau betriebene Deutsche Volkssender, dass das »deutsche Volk noch stark mit einer verbrecherischen Bande durchseucht« sei. Diese bereite sich schon darauf vor, neues Unheil zu stiften: »Erst wenn diese Elemente verschwunden sind, können wir unser Land wieder aufbauen.«

Tatsächlich war mit der »Stunde Null« das Naziregime nicht vollständig verschwunden. In Schleswig-Holstein hockte die »Regierung Dönitz«, in deren Verantwortung noch am 9. Mai auf dem Schnellboot »Buea« vier »Deserteure« zum Tode verurteilt und einen Tag später ermordet wurden. Auch der Reichssender Flensburg war weiter in Betrieb. Zwar war dort am 9. Mai um 20.03 Uhr der »letzte Wehrmachtsbericht dieses Krieges« verlesen worden (»Seit Mitternacht schweigen nun an allen Fronten die Waffen«), doch nach einer kurzen Sendepause wurde weitergefunkt. Am 10. Mai beschlagnahmten die Briten formell den Sender, erlaubten ihm aber, weiter Musik und Nachrichten zu verbreiten. Sie verlangten nur, dass die Manuskripte von ihnen genehmigt werden müssten.

Die sowjetische Nachrichtenagentur TASS verurteilte dieses Vorgehen und warnte, dass so »der Keim eines neuen Militarismus in Deutschland« gelegt werde. Erst am 13. Mai wurde der letzte Reichssender endgültig abgeschaltet. Am selben Tag nahm der Berliner Rundfunk seinen Betrieb auf – als erster Sender, der offiziell von deutschen Antifaschisten betrieben wurde.

Erschienen am 7. Mai 2020 in der Tageszeitung junge Welt