Grüße der Totgesagten

Mitte November 1943 erschien in den Deutschen Nachrichten, einer im besetzten Dänemark von deutschen Antifaschisten herausgegebenen Untergrundzeitung, eine kurze Notiz: »Die Kämpfer von Stalingrad, von der Goebbelspropaganda totgesagt, erheben täglich ihre Stimmen zur Errettung des Reiches. Sie beschwören warnend mit immer eindringlicherer Stimme: Ein neues Stalingrad, ein größeres Stalingrad bereitet sich vor.« Es folgten Sendezeiten und Frequenzen des Senders Freies Deutschland, der am 20. Juli 1943 von Moskau aus seinen Betrieb aufgenommen hatte.

Die Station war offizielle Stimme des »Nationalkomitees Freies Deutschland« (NKFD), das wenige Tage zuvor, am 12. und 13. Juli 1943, in Krasnogorsk bei Moskau gegründet worden war. Ihm gehörten in sowjetischer Kriegsgefangenschaft befindliche deutsche Soldaten und Offiziere sowie antifaschistische Emigranten an. Den Vorsitz der Organisation übernahm der Schriftsteller Erich Weinert, der über den Sender auch das Gründungsmanifest verlas. Chefredakteur wurde Anton Ackermann, der dem Zentralkomitee der KPD angehörte und bis dahin für die 1941 gegründete deutschsprachige Zeitung Das freie Wort gearbeitet hatte. Sein Stellvertreter war der damals 32 Jahre alte ehemalige Jugendfunktionär Hans Mahle, der schon vor dem Krieg Erfahrungen als Sprecher bei Radio Moskau gesammelt hatte und parallel für den in Moskau von der KPD betriebenen Deutschen Volkssender arbeitete. Zu den Redakteuren des Senders Freies Deutschland gehörten außerdem mehrere deutsche Militärs, unter ihnen der Major Herbert Stößlein, der 1943 vor Stalingrad in Kriegsgefangenschaft geraten war, sowie der Obergefreite Leopold Achilles, der ein Jahr zuvor zur Roten Armee übergelaufen war.

Zielgruppe Soldat

Nachdem zunächst nur kurze Programme von etwa 15 Minuten Dauer ausgestrahlt worden waren, nahmen die Sendezeiten bis Kriegsende stetig zu. Im Juli 1944 wurde bereits achtmal täglich über die Anlagen von Radio Moskau auf Kurz-, Mittel- und Langwelle gesendet, teilweise mit jeweils mehr als einer Stunde Dauer. Wichtigste Zielgruppe waren die deutschen Soldaten an der Ostfront, die zur Einstellung des Kampfes und zum Überlaufen aufgerufen wurden. Entsprechend ausgeprägt waren militärische Lageberichte und gezielte Sendungen für eingeschlossene Truppenteile. Hinzu kamen Kommentare und kulturelle Beiträge, aber auch religiöse Predigten. Für diese war der 1941 in Kriegsgefangenschaft geratene Unteroffizier Matthäus Klein verantwortlich, der vor dem Krieg als evangelischer Pastor gewirkt hatte und im »Arbeitskreis für kirchliche Fragen« des NKFD mitarbeitete. Auch andere Geistliche meldeten sich über den Sender zu Wort.

An die Hörer in Deutschland richtete sich der »Heimatdienst«. In dessen Rahmen wurden nicht nur Unterhaltungsmusik und Berichte aus den Kriegsgefangenenlagern gesendet, sondern vor allem regelmäßig Grüße deutscher Kriegsgefangener an ihre Angehörigen in der Heimat ausgestrahlt. Das fand im Nazireich trotz strenger Verbote und drakonischer Strafen viele Hörer. Für die Angehörigen waren diese Grußsendungen praktisch der einzige Weg, etwas über den Verbleib ihrer Ehemänner und Söhne zu erfahren, denn Post aus den sowjetischen Lagern wurden von den deutschen Machthabern abgefangen.

Die Nazipropaganda behauptete zudem, dass die Sowjetunion keine Gefangenen mache, sondern alle Deutschen in ihrer Gewalt sofort ermordet würden. Die Statements widerlegten das, insbesondere wenn die Grüße von den Gefangenen selbst gesprochen wurden. Dazu reisten die Redakteure mit einem transportablen Aufnahmegerät in die Lager, um die Stimmen der Soldaten aufzuzeichnen. Dabei wurde ihnen nahegelegt, auch die Anschriften ihrer Angehörigen in Deutschland zu nennen. Die Hörer wurden dann aufgefordert, die betroffenen Familien über das Lebenszeichen zu informieren.

Befreiung Berlins verkündet

Dieser Bitte wurde offenbar massenhaft gefolgt. In einem Gestapo-Bericht aus dem Jahr 1943 ist die Rede davon, dass Angehörige vermisster Soldaten »von anonymen Zuschriften überschwemmt werden«, in denen ihnen unter Berufung auf ausländische Rundfunksender mitgeteilt werde, »dass die deutschen Soldaten in sowjetrussischer Kriegsgefangenschaft seien und dort gut behandelt würden«. Die Faschisten machten Jagd auf diese Informanten. So wurde am 17. Juli 1944 im Zuchthaus Brandenburg-Görden der Saarländer Albert Jacob mit dem Fallbeil hingerichtet. Sein Verbrechen: Er hatte einer Mutter per Brief mitgeteilt, dass ihr Sohn noch am Leben sei, nachdem er den Namen im Radio gehört hatte.

Am 4. Mai 1945 konnte der KPD-Vorsitzende Wilhelm Pieck über den Sender Freies Deutschland die Befreiung Berlins verkünden: »Nun ist die Hitlerbande auch in ihrer Hochburg von der Roten Armee geschlagen worden. Berlin ist befreit von diesem Verbrechergesindel. Und damit hat auch für die Berliner der Hitlerkrieg sein Ende gefunden. (…) Welchem ehrlichen, anständigen Deutschen schlüge darüber nicht das Herz höher! Aber in diese Freudenbotschaft mischt sich das bittere, quälende Bewusstsein, dass sich das deutsche Volk nicht selbst von dieser Mörderbande befreite, sondern ihr bis zuletzt folgte und sie bei ihren Kriegsverbrechen unterstützte.«

Der Sender Freies Deutschland stellte den Betrieb am 8. September 1945 ein. Seine Aufgabe war erfüllt, denn inzwischen hatten zu Hause unter der Kontrolle der siegreichen Alliierten die ersten antifaschistischen Radiostationen den Betrieb aufgenommen. Viele der Sprecher wechselten aus Moskau zu diesen Programmen. Hans Mahle etwa baute in der Hauptstadt den Berliner Rundfunk auf, der schon am 11. Mai 1945 in Betrieb gehen konnte.

Erschienen am 30. April 2020 in der Tageszeitung junge Welt