junge Welt, 20. Oktober 2014

Gegen die Schere

junge Welt, 20. Oktober 2014Zehntausende Menschen haben am Sonnabend in London für höhere Gehälter demonstriert. Unter der Losung »Britannien braucht eine Lohnerhöhung« protestierten nach Angaben des Gewerkschaftsbundes TUC rund 90.000 Menschen gegen die immer weiter auseinanderklaffende Schere zwischen den Einkommen der obersten Manager und denen von Normalverdienern. »Seit 2010 haben die Beschäftigten nur Reallohnverluste hinnehmen müssen«, rief TUC-Präsident Leslie Manasseh von der Hauptbühne im Hyde Park aus: »Wir sind wütend!« Trotzdem freute sich die Londoner Polizei über einen »sehr friedlichen und gut organisierten« Protestmarsch.

An der Demonstration beteiligten sich Krankenschwestern, Feuerwehrleute, Busfahrer, Lehrer und andere Staatsbedienstete. Auch ganze Familien zogen gemeinsam mit Tausenden anderen vom Ufer der Themse aus durch London, vorbei am Trafalgar Square und dem Piccadilly Circus. Linke Gruppen bildeten eigene Blöcke oder marschierten in den Zügen der Gewerkschaften. Der Aktionstag in London, der von Demonstrationen in Glasgow und Belfast begleitet wurde, war der vorläufige Höhepunkt einer mehrwöchigen Streikwelle, mit der in zahlreichen Branchen gegen die unzureichenden Tarifangebote der Regierung protestiert wurde. Das Kabinett von Premierminister David Cameron will den Angestellten nur eine Einkommenssteigerung von einem Prozent gewähren und damit weniger als den Ausgleich der derzeitigen Inflationsrate. Auf etwa zehn Prozent summieren sich die Reallohnverluste der Briten nach einer Berechnung der New Economics Foundation inzwischen gegenüber dem Jahr 2006.

 

»Was, wenn die Krankenschwestern einfach mal nein sagen«, fragten Pflegekräfte bei der Demonstration mit Slogans auf ihren T-Shirts, während Feuerwehrleute auf einem großen Luftballon feststellten: »Wir retten Menschen, keine Banken!« Die Beschäftigten hätten die Wirtschaftskrise nicht verursacht, man dürfe sie diese nun nicht bezahlen lassen. Auch Polizisten, die möglicherweise in den kommenden Tagen in einen Ausstand treten, nahmen in Zivil an der Demonstration teil.

»Seit den Zeiten von Königin Victoria (1819–1901) waren die Einkommen nicht so ungleich verteilt«, kritisierte TUC-Generalsekretärin Frances O’Grady. Praktisch seit 2008 hätten die Beschäftigten keine wirkliche Gehaltserhöhung mehr erhalten, das sei das längste »Einfrieren« der Löhne in der Geschichte Großbritanniens. Inzwischen verdienten Topmanager 175mal soviel wie durchschnittliche Arbeiter. Fünf Millionen Beschäftigte müssten mit einem Verdienst auskommen, der unterhalb der Lebenshaltungskosten liege. »Wenn die Politiker sich fragen, warum sich so viele Menschen aus dem demokratischen Prozess ausgeschlossen fühlen, sollten sie mit der Frage anfangen, ob alle Brot und Butter haben«, so O’Grady.

Len McCluskey, Chef der größten Einzelgewerkschaft Unite, forderte die sozialdemokratische Labour Party auf, nicht länger »Angst vor dem eigenen Schatten« zu haben. Um bei den Parlamentswahlen im kommenden Jahr die konservativen Tories abzulösen, brauche es »eine klare sozialistische Alternative«. »Schmeißt die Tories raus« war auf zahlreichen Schildern zu lesen. Viele Demonstranten warnten auch vor dem wachsenden Einfluss der rechtspopulistischen »UK Independence Party« (UKIP), die bei der Europawahl Tories und Labour überflügelt hatte und stärkste Kraft werden konnte.

Erschienen am 20. Oktober 2014 in der Tageszeitung junge Welt