Doppelzüngigkeit

Der vergangene Donnerstag war in Berlin ein schöner Herbsttag. Die Sonne schien durch die großen Fensterscheiben im Bundestagsgebäude. Aminatou Haidar jedoch hielt sich die Hand vor die Augen und bat darum, die Jalousien zu schließen. »Ich habe vier Jahre mit verbundenen Augen in Isolationshaft zubringen müssen. Seither kann ich kein Sonnenlicht mehr vertragen«, entschuldigte sie sich bei den Teilnehmern eines Fachgesprächs, zu dem die linke Bundestagsabgeordnete Sevim Dagdelen eingeladen hatte.

 

Haidar stammt aus der Westsahara. Als sie 1987 von der marokkanischen Polizei verschleppt und ohne Anklage in ein Geheimgefängnis geworfen wurde, war sie zwanzig Jahre alt. Ihr Verbrechen: Sie hatte an einer friedlichen Demonstration gegen die damals schon zwölf Jahre dauernde Besetzung ihres Landes durch Marokko teilgenommen und die Durchführung eines Referendums über die Unabhängigkeit gefordert.

Die Westsahara war bis 1975 spanische Kolonie. Nach dem Tod des Diktators Francisco Franco zog sich Madrid aus dem Streifen an der Westküste Nord­afrikas zurück. Marokko und Mauretanien besetzten das Gebiet, obwohl der Internationale Gerichtshof zuvor den Wunsch der Bevölkerung nach Unabhängigkeit festgestellt hatte. Und obwohl schon 1960 die Vereinten Nationen in ihrer Resolution 1514 auch mit Blick auf die Westsahara gefordert hatten, »alsbaldige Schritte (…) in den Treuhandgebieten und den Gebieten ohne Selbstregierung sowie in allen anderen Gebieten, welche noch nicht die Unabhängigkeit erlangt haben, zu unternehmen, um den Völkern dieser Gebiete alle Hoheitsbefugnisse zu übertragen«. Während sich Mauretanien 1979 aus der Westsahara zurückzog, annektierte Marokko ab 1976 das gesamte Gebiet, obwohl die Befreiungsfront Polisario im selben Jahr die Demokratische Arabische Republik Sahara (DARS) ausgerufen hatte, die von mehr als 80 Staaten weltweit – vor allem in Afrika und Lateinamerika – anerkannt wurde und Mitglied der Afrikanischen Union ist.

1991 unterzeichneten Marokko und die Befreiungsfront einen Waffenstillstand, in dem auch die Durchführung einer Volksabstimmung im folgenden Jahr vorgesehen war. Im Zuge dieser scheinbaren Entspannung kamen auch Aminatou Haidar und Dutzende weitere Gefangene frei. Seither halten sich mehrere hundert Blauhelmsoldaten der UN-Mission MINURSO in dem von Marokko annektierten Gebiet auf, um die Waffenruhe und das Referendum zu überwachen. Doch dessen Durchführung ist seither von Marokko verhindert worden, ohne daß dies für Rabat nennenswerte Folgen gehabt hätte. Statt dessen ratifizierte der Europäische Rat der EU am vergangenen Mittwoch eine Neuauflage des »partnerschaftlichen Fischereiabkommens« mit Marokko. Die geschäftsführende deutsche Bundesregierung stimmte zu.

»Alle in dieser Region getätigten Investitionen gehen zu Lasten des sahrauischen Volkes«, beklagte Haidar am Donnerstag die gegen massiven Widerstand unter anderem aus dem EU-Parlament durchgesetzte Vereinbarung mit dem Königreich, die ihrer Ansicht nach eindeutig das Völkerrecht mißachten. »Dieses Abkommen ermutigt Marokko, weiter die Menschenrechte zu verletzen.« Zumal bis heute die Blauhelme der MINURSO nicht deren Einhaltung in den besetzten Gebieten kontrollieren dürfen. Ein Vorstoß der USA, das Mandat der aktuell gut 200 UN-Soldaten auszuweiten, wurde von Spanien und Frankreich blockiert. Speziell Paris wirft Haidar deshalb »blinden Gehorsam« gegenüber dem Königshaus in Rabat vor.

Aminatou Haidar weiß, wovon sie spricht. 2005 verlor sie ihren Arbeitsplatz und wurde sieben Monate unter einer falschen Anklage inhaftiert, weil sie zum ersten und bislang einzigen Mal in der Westsahara eine Feier zum Internationalen Frauentag organisiert hatte. 2009 verweigerte Marokko ihr die Einreise, als sie nach einem Aufenthalt in den USA nach Hause zurückkehren wollte, weil sie in ihren Papieren als Nationalität nicht »marokkanisch«, sonder »sahrauisch« angegeben hatte. Sie wurde auf die zu Spanien gehörende Insel Lanzarote abgeschoben, wo ihr die spanischen Behörde mit der Begründung die Reise in die Westsahara verweigerten, sie sei nicht im Besitz eines gültigen Passes. Erst durch einen mehrwöchigen Hungerstreik gegen die »spanische Komplizenschaft« konnte sie die Rückkehr in ihre Heimat durchsetzen.

Vor diesem Hintergrund beklagte Axel Goldau vom Verein »Freiheit für die Westsahara e.V.« in Berlin die »absurde Situation«, daß die EU und die Bundesregierung einerseits dem sahrauischen Volk in den Rücken fallen, während Aminatou Haidar zugleich am vergangenen Montag in Bremen mit dem vom Senat der Freien Hansestadt verliehenen und mit 10000 Euro dotierten Solidaritätspreis geehrt wurde. Mit ihr »zeichnen wir eine für die Einhaltung von Menschenrechten engagierte Frau aus«, sagte Bremens Bürgermeisterin Karoline Linnert (Grüne) in ihrer Laudatio. »Sie setzt sich mit friedlichen Mitteln und in stetigem Dialog mit internationalen Institutionen im Maghreb, aber auch in den Unterstützerländern – in den USA und in Europa – für die Unabhängigkeit der Westsahara, für die Rechte von Frauen und die Befreiung ihrer Heimat und ihrer Landsleute, besonders in den Flüchtlingslagern, ein«.

Aminatou Haidar ist sich indes der widersprüchlichen Haltung der deutschen Politik bewußt. Sie kritisierte in Berlin die »Doppelzüngigkeit« der Europäer.

Erschienen am 4. November 2013 in der Tageszeitung junge Welt