Ferien und Warteschlangen

Caracas erweckt nicht den Eindruck, im Zentrum einer großen Krise zu liegen. Während die internationalen Nachrichtenagenturen täglich Horrormeldungen aus Venezuela verbreiten und den Eindruck erwecken, das südamerikanische Land stünde kurz vor dem Kollaps, geht das Leben in der Hauptstadt seinen mehr oder weniger normalen Gang. Die Straßen sind leerer als sonst, doch das ist vor allem der Ferienzeit geschuldet.

Erst auf den zweiten Blick sind Anzeichen festzustellen, dass nicht alles in Ordnung ist: Vor allem vor einigen Bäckereien haben sich Schlangen gebildet. Seit Monaten leidet Venezuela unter einem Mangel an Waren des täglichen Bedarfs. Medikamente, Sanitärartikel, Maismehl oder eben einfaches Weißbrot sind in den Geschäften kaum zu bekommen. Die Produkte tauchen dann zum Vielfachen des Preises auf dem Schwarzmarkt auf. »Bachaqueo« heißt das in Venezuela.

Während die Opposition Staatschef Nicolás Maduro für die Unterversorgung verantwortlich macht, sieht dieser die Ursache in einem Wirtschaftskrieg der Opposition. Tatsächlich werden immer wieder Lager ausgehoben, in denen Produkte von den Händlern oder Herstellern gehortet werden. Am Mittwoch wurden auf einem zentralen Platz in Caracas von der Regierung mehr als elf Tonnen Sardinen verkauft, die zuvor bei Spekulanten beschlagnahmt worden waren. Und am Donnerstag berichteten die Tageszeitungen, dass die Regierung Ermittler auf die Bäckereien angesetzt habe. Es gebe keinen Grund, warum dort Brot nur rationiert abgegeben werde, denn die Belieferung mit Mehl und anderen Rohstoffen verlaufe störungsfrei. Das scheint so zu sein, denn andere Backwaren, etwa Kuchen und Kekse, sind problemlos erhältlich – doch der Preis für Weißbrot ist zum Leidwesen der Bäcker festgesetzt. Also versucht man, die Kunden zum Erwerb teurerer Waren zu zwingen.

Als zentrale Antwort auf die Krise hat die Regierung die »Lokalen Räte für Versorgung und Produktion« (CLAP) ins Leben gerufen. In diesen schließen sich Vertreter der Basisgruppen, vor allem der Kommunalen Räte, zusammen und organisieren die regelmäßige Verteilung von Lebensmitteltüten. Tanja, die in Playa Verde unweit des internationalen Flughafens Maiquetía lebt, ist in ihrem CLAP dafür verantwortlich, dass die Nachbarn ihre Berechtigungsausweise erhalten. Auf diesen ist vermerkt, wie viele Personen in einem Haushalt leben. Für diese gibt es dann etwa alle zwei Wochen Waren, die sonst schwer oder nur überteuert zu bekommen sind. Ihr jüngster Erwerb: Reis, Zucker, Milchpulver, Maismehl, Speiseöl und Nudeln. Dafür ist sie am Mittwoch morgen um sechs Uhr aufgestanden, weil die Verteilung für sieben Uhr angekündigt worden war. Letztlich kam der Transporter mit den Waren wie üblich mit anderthalb Stunden Verspätung an. Doch Tanja ist zufrieden: 900 Bolívares hat sie für ihren Einkauf bezahlt – auf dem Schwarzmarkt wären es wohl an die 15.000 Bolívares gewesen. Nicht zu bezahlen, wenn man auf die Mindestrente angewiesen ist, selbst wenn diese nach einer für den 1. September angekündigten Erhöhung um 50 Prozent 22.000 Bolívares beträgt.

Doch über die Panikmache in den internationalen Medien schüttelt die sportliche Frau, die vor Jahrzehnten aus Deutschland nach Südamerika ausgewandert ist, den Kopf. Von einer Hungersnot oder ähnlichem könne nicht die Rede sein. Obst und Gemüse gibt es reichlich und meist zu bezahlbaren Preisen. Fisch ist ebenfalls zu bekommen. Ihre Freundin Meiver, die im Viertel La Vega von Caracas lebt, stimmt ihr lebhaft zu: »Die Spekulanten haben dafür gesorgt, dass wir wieder gesünder essen. Früher haben wir aus Bequemlichkeit Dreck in uns hineingeschaufelt, jetzt machen wir Mayonnaise, die runden Maisfladen Arepas und Salate wieder selbst.«

Die beiden Frauen stehen weiterhin zu ihrem Präsidenten. Doch sie erhoffen sich endlich ein schärferes Vorgehen gegen Spekulanten, Schieber und Schmuggler. Denn sonst könne es passieren, dass Menschen die Geduld verlieren und die Justiz in die eigene Hand nehmen. Die Folge wäre eine Explosion der Gewalt. Genau darauf spekuliert offenbar die Opposition: Venezuela erlebt einen nicht erklärten Zermürbungskrieg. Sein Ausgang bleibt offen.

Erschienen am 20. August 2016 in der Tageszeitung junge Welt