Venezuela weist protestantische Sekte aus – Massnahmen gegen „New Tribes Mission“

Seit Venezuelas Präsident Hugo Chávez 2002 den in Spanien und Lateinamerika als “Tag der Rasse” oder “Tag der Hispanität” begangenen Jahrestag der Landung Christoph Kolumbus’ in Amerika per Dekret in „Tag des indigenen Widerstandes“ umbenannte, hat der 12. Oktober in dem südamerikanischen Land einen deutlich anderen Gehalt bekommen. Sowohl die indigenen Organisationen als auch die venezolanische Regierung thematisieren die Geschichte der Unterdrückung und des Widerstandes der indigenen Bevölkerung und nehmen das Datum zum Anlaß für die Lancierung neuer Projekte. So wurde am 12. Oktober 2003 die Mission Guaicaipuro ins Leben gerufen, die sich an die 33 Ethnien angehörenden rund 500.000 Indigenas Venezuelas richtet und deren Ziel es ist, eine grundsätzliche Verbesserung der Lebensbedingungen der eingeborenen Völker zu erreichen.

Nicht zum Feiern zumute dürfte an diesem Feiertag der evangelikalen US-amerikanischen Sekte „New Tribes Mission“ (Mission der Neuen Stämme, NTM) gewesen sein. Im Rahmen der offiziellen Veranstaltung der venezolanischen Regierung zum 12. Oktober wurden nicht nur erneut 15 kollektive Eigentumstitel an indigene Gemeinschaften übergeben, die dadurch offizielle Eigentümer des von ihnen bewohnten Gebiets wurden. Präsident Hugo Chávez kündigte außerdem die Ausweisung aller „Missionare“ der NTM aus Venezuela an. „Wir wollen diese neuen Stämme nicht, wir alle hier gehören einem alten Stamm an und außerdem haben wir vom Kolonialismus genug, der 500 Jahre Unterdrückung bedeutete“, rief Chávez unter dem Beifall der Versammelten aus.

Die NTM sei nichts anderes als „eine andere Fassade der USA zur Durchsetzung ihrer imperialistischen Herrschaft“, so der Präsident. Er warf den religiösen Fundamentalisten vor, Agenten des US-Geheimdienstes CIA zu sein. Während die venezolanischen Indígenas häufig noch immer unter Armut und Unterernährung litten, verfügten die „Neuen Stämme“ über eigene Systeme zur Energieversorgung, Funknetze, starke Landwirtschaftsmaschinen und sogar über eine eigene Start- und Landebahn, auf der Flugzeuge aus dem Ausland am venezolanischen Zoll vorbei landeten. In diesem Zusammenhang kritisierte der selbst aus dem Militär stammende Präsident „unter Brüdern“ die venezolanischen Sicherheitskräfte und forderte sie auf, sich dieser unhaltbaren Situation anzunehmen.

Chávez unterstrich, es werde keine Übergriffe gegen die „Missionare“ geben und man setze ihnen sogar eine Frist, bis zu der sie das Land verlassen haben müßten, aber sie müßten „auch aus dem letzten Winkel“ Venezuelas verschwinden. Innenminister Jesse Chacón wurde von Chávez beauftragt, die vollständige Ausreise der NTM aus Venezuela zu überwachen und darüber einen offiziellen Bericht anzufertigen. Diese Maßnahmen haben offenbar schon begonnen. Auf ihrer Homepage beklagt die NTM jedenfalls bereits, dass ihre Gebäude im Siedlungsgebiet der Pume vom Militär besetzt worden seien.

Venezuela ist nicht das erste Land Lateinamerikas, das gegen die „berüchtigten“ (ZDF) „Missionare“ vorgeht. Nachdem die NTM vor einigen Jahren die Grippe in die nördliche Amazonasregion Brasiliens einschleppte und dadurch den Stamm der Zoé, der erst 1976 von Ethnologen entdeckt worden war, fast vollständig ausrottete, wurden sie aus der Region ausgewiesen.

In Paraguay genießt die New Tribes Mission den zweifelhaften Ruf, im Regenwald regelrechte Menschenjagden zu veranstalten und die Opfer in ihre Einrichtungen zu verschleppen. 1986 rissen die „Missionare“ so den Totobiegosode angehörende Familien auseinander. Erst fast zwanzig Jahre später gelang es einigen dieser Familien gegen den heftigen Widerstand der NTM, sich wiederzutreffen.

In Venezuela ist die NTM seit 1946 aktiv. Die „Missionare“ reisten damals als Touristen und „neugierige Forscher“ aus Kolumbien in das Nachbarland ein und ließen sich am Ufer des Casiquiare nieder, einer Region, in der zu dieser Zeit Naturgummi abgebaut wurde. Bereits früh stieß die fundamentalistische Sekte auf den Widerstand der indigenen Bevölkerung in der Region, so der Aquencwa, die sich auch gewaltsam gegen die Eindringlinge zur Wehr setzten. Erst 1954 wurde die Präsenz der NTM in der venezolanischen Amazonas-Region offiziell erlaubt – durch den Diktator Marcos Pérez Jiménez, der sich sechs Jahre zuvor an die Macht geputscht hatte und von den USA unterstützt wurde. Interessanterweise siedelten die „Missionare“ noch im selben Jahr in das venezolanische Guayana-Schild über, einem Siedlungsgebiet der Yanomami, wo kurz zuvor Uranvorkommen entdeckt worden waren. Bereits damals rief dieses merkwürdige Zusammentreffen den Verdacht hervor, hinter den Aktivitäten der „Missionare“ könnte mehr stecken als religiöser Eifer.

Auch der Vorwurf der Spionage ist nicht neu. Bereits 1976 ordnete der damalige Militärbefehlshaber des venezolanischen Bundesstaates Amazonas, Tomas Antonio Mariño Blanco, die Verhaftung zweier der NTM angehörender nordamerikanischer Ingenieure wegen Spionage an. Erst das direkte Eingreifen des Chefs der „Missionare“ in Venezuela, Jaime Bou, und der US-Botschaft in Caracas sorgte für die Freilassung der Verhafteten. Eine kurze Zeit später eingeleitete Untersuchung des venezolanischen Parlaments förderte zutage, dass die US-Sekte bereits damals gegen die venezolanischen Gesetze verstoßen hatte, unter anderem durch illegale, nicht angemeldete Flüge. Die Untersuchungen erhärteten den Spionage-Verdacht. Ein Appell zur Ausweisung der Sekte wurde von 15.000 Menschen unterzeichnet. Trotzdem verliefen die Untersuchungen im Sande. Nach einer Intervention des damaligen Parlamentsabgeordneten José Vicente Rangel, heute Vizepräsident Venezuelas, wurden die Untersuchungen wieder eröffnet, die Ergebnisse aber nie veröffentlicht.

Trotz dieser Vorgeschichte konnte die nordamerikanische Sekte in der ersten Zeit der Regierung Chávez von der größeren religiösen Toleranz profitieren. David Zelenak von der NTM-Führung in Venezuela räumt ein, dass erst unter Chávez christliche Radio- und Fernsehsendungen möglich wurden. So strahlte der Privatsender Televen bis vor Kurzem sogar die Show „Club 700“ des nordamerikanischen Fernsehpredigers Pat Robertson aus, in der dieser zur Ermordung des venezolanischen Präsidenten aufrief. In dieser Provokation des evangelikalen Haßpredigers könnte auch eine der Ursachen für den jetzigen harten Kurs gegen die NTM liegen, zumal die „Neuen Stämme“ sich im Gegensatz zu anderen evangelikalen Sekten in Venezuela nicht von dem Mordaufruf distanzieren wollten.

Erschienen im Oktober 2005 in der Tageszeitung "Neues Deutschland" und – in einer gekürzten Fassung – in der Tageszeitung "junge Welt"