Kampf der Staatsgewalten

Venezuelas Staatsaufbau unterscheidet sich von dem klassischen Modell, das Charles de Montesquieu im 18. Jahrhundert entwarf. Neben Exekutive (Regierung), Legislative (Parlament) und Judikative (Gerichte) wurden mit der Verfassung von 1999 zwei weitere Staatsgewalten eingeführt. Auf ein Konzept des Nationalhelden Simón Bolívar (1783–1830) zurückgehend gilt der Republikanische Moralische Rat, der aus Ombudsmann, Generalstaatsanwalt sowie dem mit dem Chef des deutschen Bundesrechnungshofes vergleichbaren Contralor General besteht, ebenso als Säule des Staates wie der für die Durchführung von Abstimmungen verantwortliche Nationale Wahlrat (CNE). Die Verfassung legt fest, dass sie alle zusammenarbeiten sollen. Zugleich ist in zahlreichen Artikeln eine gegenseitige Kontrolle ihrer Organe vorgesehen.

Nach 18 Jahren bolivarischer Regierung – Hugo Chávez hatte sein Amt am 2. Februar 1999 angetreten – werden heute vier der fünf Gewalten von »Chavistas« kontrolliert. Dazu hat die rechte Opposition selbst beigetragen, weil sie sich über Jahre jeder Mitgestaltung verweigerte. Erst seit sie im Dezember 2015 die Parlamentswahlen gewann, kontrolliert sie die Nationalversammlung. Seither ist ein Konflikt zwischen den Staatsgewalten entbrannt.

Nach Einsprüchen gegen das Ergebnis der Parlamentswahl im Bundesstaat Amazonas ordnete der Oberste Gerichtshof (TSJ) an, dass drei dort gewählte Abgeordnete der Opposition vorläufig nicht in die Arbeit der Legislative einbezogen werden dürften. Trotzdem ließ Parlamentspräsident Henry Ramos Allup die drei Politiker vereidigen. Daraufhin erklärten die Richter alle folgenden Sitzungen und Beschlüsse der Nationalversammlung für null und nichtig. Dieser Spruch gilt bis heute, obwohl die Regierungsgegner zwischenzeitlich zugesagt hatten, die umstrittenen Mandate ruhen zu lassen – erfolgt ist das bisher nicht. Die von Abgeordneten der Vereinten Sozialistischen Partei (PSUV) und der KP Venezuelas gebildete Fraktion des Regierungslagers beantragte deshalb am Dienstag beim TSJ, auch die Sitzung vom Montag für ungültig zu erklären. Bei dieser hatten die Abgeordneten der Opposition eine Erklärung verabschiedet, derzufolge Präsident Nicolás Maduro sein Amt aufgegeben habe.

Einen weiteren Konflikt gibt es zwischen der Legislative und dem CNE. Die Opposition hatte im vergangenen Jahr versucht, ein Amtsenthebungsreferendum gegen den Präsidenten durchzusetzen. Der Wahlrat hatte jedoch strikt auf der Einhaltung aller Fristen und Vorschriften bestanden und so die Zeitpläne der Regierungsgegner durcheinander gebracht. Die Abgeordneten warfen Maduro deshalb am Montag vor, das Referendum verhindert zu haben – und ignorierten somit en passant die Existenz der Wahlgewalt als Säule des Staates.

Erschienen am 13. Januar 2017 in der Tageszeitung junge Welt