Ausstieg vor dem Einstieg

Venezuelas Präsident Hugo Chávez hat angekündigt, das Atomprogramm des südamerikanischen Landes bis auf weiteres auf Eis zu legen. »Es gibt nicht den geringsten Zweifel, daß das, was in Japan mit den dortigen Reaktoren passiert, weltweit die Pläne zur Entwicklung der Kernenergie umwirft«, erklärte der Staatschef am Dienstag abend (Ortszeit) während der Unterzeichnung eines Abkommens zwischen dem chinesischen Staatsunternehmen CITIC und der venezolanischen Industrie- und Handelsbank über die Gründung eines gemeinsamen Unternehmens zur Entwicklung von Projekten im Erdöl- und Bergbaubereich. Er habe Energieminister Rafael Ramírez beauftragt, die entsprechenden Vorarbeiten, die sich noch »in einem sehr frühen Stadium« befunden hätten, bis auf weiteres einzustellen.

Venezuela hatte im vergangenen Oktober ein Abkommen mit Rußland über den Bau eines Forschungsreaktors unterzeichnet. Bereits damals hatten Kritiker, darunter auch Unterstützer der Regierung, darauf hingewiesen, daß das Land eine solche Technologie nicht benötige, weil es seinen Bedarf aus erneuerbaren Quellen wie Wasser, Wind und Sonne decken könne. Mehr als zwei Drittel der Stromproduktion Venezuelas stammt bereits jetzt aus Wasserkraft. Allerdings hatte im vergangenen Jahr eine Dürreperiode die Stauseen des Landes austrocknen lassen und dadurch zu Engpässen bei der Energieversorgung geführt. Auch deshalb traf die Entscheidung des Präsidenten, die Atomkraft zu entwickeln, in Venezuela zunächst auf breite Unterstützung. Noch am Dienstag, wenige Stunden vor der Ankündigung des Präsidenten, bekräftigte der Basisaktivist Yoel Capriles aus Caracas gegenüber junge Welt noch einmal, daß er persönlich der festen Überzeugung sei, »daß wir das Projekt unser eigenes Kraftwerks und die Arbeit mit der Kernkraft zu friedlichen Zwecken fortsetzen sollten«.

Die rechte Opposition des süd­amerikanischen Landes, die sich im vergangenen Jahr noch dafür ausgesprochen hatte, daß Venezuela die Kernenergie »ernsthaft und verantwortungsvoll aufgreifen« solle, reagierte zunächst offiziell nicht auf die Ankündigung. In dem rechten Internetportal noticias24 warfen Kommentatoren der Regierung jedoch vor, die Katastrophe in Japan lediglich als Vorwand benutzt zu haben, um ein Projekt aufzugeben, das sie gar nicht hätte umsetzen können. »Die Ereignisse in Japan kommen Chávez wie gerufen«, behauptet beispielsweise ein Autor und fragt: »Wenn das nicht passiert wäre, was hätte er denn gesagt, denn der Reaktor wäre doch sowieso nie gebaut worden.«

Erschienen am 17. März 2011 in der Tageszeitung junge Welt