Wie einst Zamora. Venezuela vor dem Referendum

Anfang August findet in Venezuela das von der Opposition lange angestrebte Referendum über eine vorzeitige Amtsenthebung des bis 2006 gewählten Präsidenten Hugo Chávez statt. Am 3. Juni hatte der Nationale Wahlrat (CNE), die oberste Wahlbehörde des südamerikanischen Landes, die vorläufigen Ergebnisse der Unterschriftenkampagne der Opposition bekanntgegeben. Demnach ist es den von den USA unterstützten Kräften gelungen, im Rahmen der Überprüfung der vom CNE angezweifelten Unterschriften die für das Referendum notwendige Anzahl von 2,4 Millionen Eintragungen knapp zu überschreiten. Das CNE ging dabei über erneute Hinweise auf Wahlfälschungen hinweg. So sollen rund 15.000 mittlerweile verstorbene Personen bei den Überprüfungen ihre Unterschrift bekräftigt haben. Bei einer Razzia im Sitz der sozialdemokratischen Oppositionspartei AD wurde eine komplette Werkstatt zur Fälschung von Ausweisdokumenten sichergestellt. Mehrere Personen wurden in der Nähe der Abstimmungsbüros mit mehreren Hundert Ausweisdokumenten in der Tasche festgenommen.

Es war Präsident Chávez selbst, der noch am Abend des 3. Juni die Entscheidung des CNE anerkannte und die Anhänger der bolivarianischen Bewegung zum Beginn des Wahlkampfes aufrief. Chávez verglich die Kampagne um das Referendum mit der Schlacht von Santa Inés vom 10. Dezember 1859. Damals hatten sich während des Bürgerkriegs die Truppen des Bauernführers Ezequiel Zamora vor den anrückenden gegnerischen Truppen aus der Provinzhauptstadt Barinas zurückgezogen und erwarteten die siegessicher nachstürmenden Truppen der Großgrundbesitzer im Dorf Santa Inés, wo sie ihnen eine vernichtende Niederlage beibrachten. Chávez sagte, die bolivarianische Bewegung habe nun wie damals Zamora die Gegner dorthin gebracht, wo man sie haben wolle. Jetzt beginne erst die eigentliche Auseinandersetzung, und zwar auf dem Boden der Verfassung.

Vor dieser Erklärung des Präsidenten hatten zahlreiche Organisationen der Linken zunächst gegen die Entscheidung des CNE protestiert. Sprecher der radikalen Basisgruppe „Tupamaros“ aus dem für seine kämpferischen Traditionen bekannten Viertel 23 de Enero verglichen die Erklärung des CNE sogar mit der absurden Entscheidung des Obersten Gerichtshofes vom Sommer 2002, als dieser die in den Putsch vom April des selben Jahres verwickelten Generäle freisprach, da es in Venezuela niemals einen Staatsstreich gegeben habe. Der linke Gewerkschaftsverband UNT hatte sogar mit einem landesweiten Generalstreik gedroht, wenn der CNE das durch Fälschungen entstandene Ergebnis anerkenne.

Mit seiner Stellungnahme ist es Präsident Chávez gelungen, eine vom eigentlichen Ziel ablenkende Debatte zu verhindern und alle Kräfte der revolutionären Bewegung auf die Kampagne um das Referendum zu konzentrieren. Am Sonntag, den 6. Juni, demonstrierten nach nur drei Tagen Vorbereitungszeit mehr als eine Million Menschen im Zentrum von Caracas. Die breiteste und längste Straße der venezolanischen Hauptstadt, die Avenida Bolívar, erwies sich erneut als zu klein für die aus drei Richtungen anmarschierten Menschenmassen, die ihre Unterstützung für den Präsidenten und die Bolivarianische Revolution demonstrierten. Am Vortag hatte bereits die Opposition zu einer Freudendemonstration über das Erreichen des Referendums aufgerufen. Nach Schätzungen der Agentur AFP waren es nur rund 60.000 Menschen, die dem Aufruf des Oppositionsbündnisses folgten, so daß die Organisatoren kurzfristig darauf verzichteten, ihre Abschlußkundgebung ebenfalls auf der Avenida Bolívar abzuhalten und lieber auf einen weniger großen Platz auswich.

Das Referendum ist eine auf Vorschlag von Hugo Chávez selbst in die Ende 1999 von einer Volksabstimmung angenommene Verfassung aufgenommene Regelung. Danach muß sich jeder Mandatsträger nach der Hälfte seiner Amtszeit einem Referendum über seine vorzeitige Abberufung stellen, wenn dies 20 Prozent der Wahlberechtigten mit ihrer Unterschrift fordern. Kommt es zu einem Referendum, sind zwei Hürden zu nehmen, damit der Mandatsträger abberufen und Neuwahlen angesetzt werden: die Mehrheit der abgegeben Stimmen muß sich für die Absetzung aussprechen. Und diese Mehrheit muß in absoluten Zahlen mehr Stimmen entsprechen, als der Mandatsträger bei der letzten Wahl erhalten hatte. Im Falle von Hugo Chávez sind dies rund 3,8 Millionen Stimmen. Wenig Beachtung fand international, daß sich entsprechend dieser Regelungen auch neun oppositionelle Parlamentsabgeordnete solchen Referenden stellen müssen, möglicherweise parallel zu der Abstimmung, die die revolutionäre Bewegung längst ein Referendum zur Bestätigung des Präsidenten Chávez nennt.

Erschienen in der Wochenzeitung UZ – Unsere Zeit vom 4. Juni 2004