Pinochets Erben

Drei Monate nach dem Amtsantritt des neuen chilenischen Präsidenten Sebastián Piñera wittern die Anhänger der Pinochet-Diktatur Morgenluft. Offensiv versuchen führende Politiker und Leute aus dem direkten Umfeld des Staatschefs, das nach dem Putsch vom 11. September 1973 bis 1990 Chile beherrschende Regime zu relativieren.

Der Bruder

Der jüngste Fall betrifft ausgerechnet den älteren Bruder des Präsidenten, José Piñera. Der frühere Arbeitsminister des Pinochet-Regimes, unter dem die staatliche Rentenversicherung privatisiert wurde, widmet sich eifrig der Rechtfertigung des blutigen Staatsstreichs gegen den sozialistischen Präsidenten Salvador Allende. Über den Internetdienst Twitter verbreitet er, Allende habe der Demokratie »den Krieg erklärt« und »gewaltsam« eine »kommunistische Diktatur« in Chile errichten wollen. »Die Streitkräfte mußten eingreifen, weil die verfassungsmäßigen Mittel versagten, um eine Regierung aufzuhalten, die sich verfassungswidrig verhielt«, rechtfertigt er den Staatsstreich, der bei ihm offenherzig »Beseitigung Allendes« genannt wird. Für Aufsehen sorgte nun jedoch ein Interview mit Piñera, das die argentinische Zeitung Perfil am Wochenende veröffentlichte. Auf die Frage, ob er den Putsch gegen Allende für legitim halte, antwortete Piñera, Allende sei selbst schuld gewesen: »Der berühmteste Fall der Geschichte war Adolf Hitler 1933. Er wurde demokratisch gewählt und dann zu einem Tyrannen.«

Während sich Staatspräsident Sebastián Piñera zu den Ausfällen seines Bruders nicht äußern wollte, bezeichnete Chiles Innenminister Rodrigo Hinzpeter die Worte Piñeras als »verwerflich, unverständlich und abzulehnen«. Allendes Tochter Isabel, die heute für die Sozialisten im chilenischen Parlament sitzt, bezeichnete den Hitler-Vergleich als »grotesk«, während der kommunistische Abgeordnete Hugo Gutiérrez kommentierte: »Die Hitler am nächsten stehende Person, die wir Chilenen kennen, war Pinochet, und wer Goebbels, dem Propagandabeauftragten Hitlers, am nächsten steht, ist José Piñera.«

Angesichts der Reaktionen, versuchte Piñera zurückzurudern. Er habe der Zeitung nie ein Interview gegeben, sondern lediglich eine über Twitter gestellte Frage beantwortet. Zugleich richtete er Drohungen gegen den Innenminister: »Denkt daran, daß Innenminister Hinzpeter über vom Staat gelieferte Geheiminformationen über alle Chilenen verfügt.«

Der Botschafter

Erst in der vergangenen Woche hatte Chiles Präsident nach öffentlichen Protesten seinen Botschafter in Buenos Aires, Miguel Otero, abberufen müssen. Dieser hatte gegenüber der argentinischen Tageszeitung Clarín erklärt, der größte Teil der Chilenen habe die Diktatur nicht gespürt. »Im Gegenteil, sie fühlten sich erleichtert. Von heute auf morgen fanden sie, was es vorher nicht gab. Das Volk war der Gewinner.« In Argentinien und Chile löste dies einen Eklat aus. »Seine Aussagen sind ein Stoß ins Herz des argentinischen Außenministers, der von den Schergen des Diktators Videla erbarmungslos gefoltert wurde, « kommentierte der Direktor der chilenischen Akademie für christlichen Humanismus und frühere Botschafter seines Landes in Ecuador, Roberto Pizarro, in der Zeitung Página/12. Rechte Politiker nahmen den Botschafter hingegen in Schutz. Enrique Estay von der chilenischen Regierungspartei UDI erklärte, Otero habe nur »die Wahrheit gesagt«.

Unterdessen berichteten chilenische Medien über »diskrete Gespräche« zwischen Militärs und hochrangigen Regierungsvertretern. Die früheren Offiziere fordern von Präsident Piñera eine Begnadigung der Folterer der Diktatur. Der stellvertretende Verteidigungsminister Alfonso Vargas räumte regelmäßige Treffen mit den Militärs ein, die er selbst durchführe, wenn der Minister verhindert sei.

Erschienen am 16. Juni 2010 in der Tageszeitung junge Welt und am 18. Juni 2010 in der Zeitung vum Lëtzebuerger Vollek