junge Welt, 21. April 2018

Kein Zurück zu Pinochet

Knapp sechs Wochen nach dem Amtsantritt des neuen chilenischen Präsidenten ist die Schonfrist für Sebastián Piñera abgelaufen. Mehr als 100.000 Schüler und Studierende gingen am Donnerstag (Ortszeit) in Santiago de Chile auf die Straße, um gegen die Privatisierungspolitik der von den Rechtsparteien gestellten Regierung zu protestieren. Noch im vergangenen Monat hatte der neue Bildungsminister Gerardo Varela vollmundig verkündet, die Zeit der Demonstrationen sei vorbei – nun schallten ihm lautstark Parolen gegen den Ausverkauf der Hochschulen und das noch aus der Zeit der Pinochet-Diktatur stammende Bildungssystem entgegen.

Die Jugendlichen wollen sich für ein Universitätsstudium nicht mehr verschulden müssen. Bildung dürfe kein Geschäft sein, sondern müsse kostenfrei werden, verlangten sie. Unmittelbarer Anlass für den Protest war ein Urteil des chilenischen Verfassungsgerichts, wonach private Bildungseinrichtungen, die Bestandteil des öffentlichen Schulsystems sind, trotzdem Gewinnabsichten verfolgen dürfen. Bislang war ihnen das zumindest offiziell untersagt.

Letztlich demonstrieren die Schüler und Studenten also für dieselben Forderungen, wie sie schon vor rund einem Jahrzehnt auf den Demonstrationen zu hören waren. Es habe in der Vergangenheit zwar kleine Verbesserungen gegeben, erklärte die Sprecherin des Studierendenverbandes Confech, Sandra Beltrami. Die Forderungen von damals seien jedoch weiter aktuell.

Einmal mehr ging die chilenische Polizei mit Gewalt gegen die Demonstranten vor. Ein Jugendlicher wurde schwer verletzt, als er von einem Wasserwerfer überrollt wurde. »Wir mussten ihn zwischen den Autos hervorziehen, weil die Carabineros ihm nicht helfen, sondern ihn festnehmen wollten«, berichtete ein Augenzeuge dem Internetportal La Izquierda Diario. »Sie lassen uns nicht in Frieden und Würde studieren, und nun verletzen die Carabineros einen Studenten schwer«, schloss sich Beltrami dem Protest gegen die Polizeigewalt an.

Der Rechtsschwenk unter Piñera weckt Erinnerungen an die finsteren Zeiten der von 1973 bis 1990 in Chile herrschenden Pinochet-Diktatur. Am Donnerstag titelte das linke Internetportal El Siglo: »Faschismus im Nationalkongress«. Zuvor war es im Parlament zum Eklat gekommen. Während sich draußen Tausende Menschen für die Großdemonstration versammelten, kündigte Regierungssprecherin Cecilia Pérez drinnen an, dass das Kabinett einen bereits vom Menschenrechtsausschuss gebilligten Gesetzentwurf zurückziehen werde. Dieser sah Entschädigungszahlungen für ehemalige politische Gefangene vor. Pérez begründete das mit der angespannten Haushaltslage – doch den eigentlichen Grund für die Entscheidung machte Ignacio Urrutia von der zu Piñeras Regierungskoalition gehörenden UDI deutlich. Die Entschädigungen seien »Geschenke für Leute, die im Kern Terroristen waren«. Der frühere Präsidentschaftskandidat José Antonio Kast stellte sich hinter diese Äußerungen und machte den »Hass der Linken« für den »Zusammenbruch der Institutionen« verantwortlich. Die Abgeordneten der fortschrittlichen Parteien verließen daraufhin den Plenarsaal. Die kommunistische Abgeordnete Camila Vallejo erklärte über Twitter, der Vorfall zeige das »wahre Gesicht dieser ultrarechten Regierung: Piñera zieht die Entschädigung der Opfer der Menschenrechtsverletzungen zurück, und der Abgeordnete Urrutia nennt die Opfer ›Terroristen‹.«

Erschienen am 21. April 2018 in der Tageszeitung junge Welt