junge Welt, 13. September 2023

»Kein Kommerz auf Megahertz«

Serie: Klassenkampf im Äther – 100 Jahre Rundfunk in Deutschland. Teil 10: Mit Piratensendern und »Freien Radios« wehrte sich die Opposition gegen die Einführung des privaten Rundfunks

Die Vorherrschaft des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in Westdeutschland blieb in den ersten rund 20 Jahren der Existenz der Bundesrepublik unangetastet. Abgesehen von dem als Stimme der illegalen KPD aus ostdeutschem Exil funkenden Deutschen Freiheitssender 904 sind praktisch keine Aktivitäten von Schwarz- oder Piratensendern in der Bundesrepublik überliefert – wenn man von den Stationen antikommunistischer Exilorganisationen absieht, die von Bonn geduldet Propaganda nach Osten funkten.

Erst für Ende der 1960er Jahre ist die Existenz eines linken, explizit politischen Untergrundsenders nachgewiesen. Im Bundestag bestätigte Postminister Werner Dollinger auf Anfrage des CDU-Abgeordneten Werner Marx, dass am 26. Februar 1969 ein Sender »mit der Ansage Radio Revolution« das Programm des Senders Freies Berlin »mit unflätigen Bemerkungen über die Bundesversammlung und den Berliner Senat erheblich gestört« habe. In der folgenden Nacht habe der »APO-Sender« – wie der Minister den Piratensender taufte – »in negativer Weise den Besuch des US-Präsidenten Nixon in Berlin« kommentiert und »die üblichen APO-Parolen« verbreitet. Peilungen hätten ergeben, dass sich der Sender in einem Gebäudekomplex in der Gegend nördlich des Bahnhofs Zoo befunden haben dürfte – dem Sitz der Technischen Universität Berlin.¹ Ein weiteres Mal erregte der Sender am 26. September 1969, dem Tag der Bundestagswahlen, Aufsehen. Mehrfach überlagerte er während der Wahlberichterstattung der ARD den regulären Ton mit Parolen wie »NPD und SPD tun einander gar nicht weh« oder »Die SPD ist die beste CDU, die es je gab«.²

Hinter dem Sender steckten Aktivisten aus dem Umfeld der in dieser Zeit entstehenden militanten Gruppe »Tupamaros Westberlin«. Einer von ihnen, Michael »Bommi« Baumann, beschrieb in seinen 1975 veröffentlichten Erinnerungen, wie sie damals im Auto durch die Stadt kurvten und sich mit ihren jeweils nur ein paar Straßenzüge weit reichenden Sendern in das Fernsehprogramm einblendeten: »Irgendwann mal in unserem Rausch haben wir ein Tape fertiggemacht und sind mit unseren Autos kreischend durch die Straßen gefahren und haben Köpke (gemeint ist der ›Tagesschau‹-Sprecher Karl-Heinz Köpcke; Anm. d. Verf.) unsere Meldungen durchsprechen lassen. Ist natürlich ein irrer Gag, wenn du Köpke siehst und da spricht ein ganz anderer.«³

Auch in anderen Städten kam es in dieser Zeit zum Einsatz von kleinen Radiosendern bei Aktionen der Studierenden. So meldete sich Ende Januar 1969 während der Besetzung des Instituts für Psychologie an der Hamburger Universität ein Freiheitssender Wilhelm-Reich-Institut.⁴

Generell blieb die Bedeutung dieser frühen Piratensender aber beschränkt auf die Begleitung der »eigentlichen« Aktionen, eine eigenständige Bedeutung hatten sie kaum. SDS und APO konzentrierten sich in ihrer Medienpolitik darauf, Zugang zum öffentlich-rechtlichen Rundfunk zu fordern, zum Beispiel mit dem Ruf nach regelmäßiger Sendezeit in eigener redaktioneller Verantwortung für die außerparlamentarische Opposition.⁵

Neue soziale Bewegungen

Mit dem Niedergang der Studentenbewegung verschwanden zunächst auch die meisten dieser illegalen Sender. Eine Ausnahme war Radio Bundschuh in München, das 1972 den Kampf von Bürgerinitiativen gegen den Bau des Europäischen Patentamtes (EPA) in der bayerischen Landeshauptstadt begleitete, für den 33 Wohnhäuser mit über 1.000 Bewohnerinnen und Bewohner weichen sollten. Der Piratensender überlagerte den Fernsehton der ARD mit Durchsagen wie: »Wenn das EPA in diesem Viertel gebaut wird, werden wir auf die Barrikaden gehen. Da ist wahrscheinlich jemand mit Unsummen bestochen worden. Wenn uns die Verantwortlichen nicht glauben, werden unsere Barrikaden und Sabotage sie überzeugen. Sie hörten Radio Bundschuh, wir werden uns wieder melden.«⁶

Der erste Piratensender Münchens war eine frühe Stimme der in dieser Zeit entstehenden »neuen sozialen Bewegungen«. Sie deckten eine Vielzahl von Themen ab, von Ein-Punkt-Protesten gegen den Bau von Atomkraftwerken, gegen Fahrpreiserhöhungen oder eben – wie in München – gegen städtebauliche Projekte bis hin zu Versuchen, gesellschaftspolitische Alternativen bereits im Hier und Jetzt zu leben. Bei allen Unterschieden im Detail einte einen Großteil dieser Initiativen die Skepsis gegenüber Parteien und traditionellen politischen Ansätzen, man wollte »alles neu« machen, verstand sich als gesellschaftliche Opposition. Als solche sah man sich ebenso wie zuvor die APO von den großen Massenmedien ausgegrenzt und verleumdet. Ihr Ansatz war aber nicht mehr, bei den »Großen« um Einlass zu betteln, sondern sich nach und nach eigene Medien zu schaffen. Das beschleunigte sich insbesondere nach den Erfahrungen der Nachrichtensperre während des »Deutschen Herbsts« 1977, als im Zuge der Terrorismushysterie nahezu jede kritische Meinungsäußerung aus den großen Medien verbannt wurde.

Zugleich versuchten konservative Kräfte seit Anfang der 1970er Jahre, ihren Einfluss auf den Rundfunk zu verstärken. Ein erster Höhepunkt dieser Auseinandersetzung war 1972 die im Bayerischen Landtag mit der absoluten Mehrheit der CSU beschlossene Änderung des bayerischen Rundfunkgesetzes, durch die der Einfluss von Regierung und Parteien auf den Bayerischen Rundfunk verstärkt und der Weg für private Sender geöffnet werden sollte. Schon beim »politischen Aschermittwoch« 1971 in Vilshofen hatte Ministerpräsident Franz-Josef Strauß von einer »roten Unterwanderung bei Funk und Fernsehen« und von »volksfremden Publikationsorganen« schwadroniert und eine »Reichsrundfunkkammer mit Linksdrall« ausgemacht.⁷

Gegen das Vorgehen der CSU richtete sich ein Volksbegehren, das vom DGB, der SPD, der FDP und unabhängigen Gruppen initiiert wurde. Entsprechend den Vorgaben der bayerischen Volksgesetzgebung trugen sich vom 27. Juni bis 10. Juli 1972 insgesamt 13,9 Prozent aller stimmberechtigten Bürgerinnen und Bürger in die ausliegenden Listen ein, womit das vorgeschriebene Quorum von zehn Prozent überschritten wurde. In der Folge gab es im Landtag einen Kurswechsel, die Abgeordneten beschlossen eine Änderung der Landesverfassung. Artikel 111 a legte nun fest, dass die alleinige Verantwortung für den Rundfunk in öffentlich-rechtlicher Hand liege – womit die Einführung von Privatsendern ausgeschlossen war – und die Macht von Parteien und Staat im bayerischen Rundfunkrat auf ein Drittel der Sitze beschränkt wurde. Diese Änderung wurde im Volksentscheid am 1. Juli 1973 mit 87 Prozent Zustimmung bestätigt, zwei Wochen später wurde das Rundfunkgesetz an die neue Verfassungslage angepasst.⁸

Den Drang der Konservativen nach einer Privatisierung des Rundfunks bremste das allerdings nicht. Die offene Tür war die technische Entwicklung durch Kabelnetze und Satellitenübertragung, später durch digitalen terrestrischen Rundfunk, die das Monopol der öffentlich-rechtlichen Anstalten untergruben. Obwohl Artikel 111 a bis heute gilt, ist Bayern inzwischen mit Privatsendern übersät. Das gelang, indem man ab 1984 in den jeweiligen Mediengesetzen zwar kommerzielle Sender zuließ, sie aber formal der Trägerschaft der öffentlich-rechtlichen Bayerischen Landeszentrale für neue Medien (BLM) unterstellte.

Die neuen sozialen Bewegungen sahen sich in der Diskussion um die Zulassung kommerzieller Medien an den Rand gedrängt. Sie lehnten einerseits das Monopol der ARD-Anstalten ab, da diese durch ihre Strukturen eine direkte Bürgerbeteiligung verhinderten, bekämpften andererseits aber auch die Einführung des kommerziellen Privatfunks. In einer zeitgenössischen Publikation hieß es dazu: »Die Leute, die momentan immer vorgeben, das ›Monopol brechen‹ zu wollen, haben folgendes im Sinne: Einmal versperrt das Monopol der Anstalten den Zugang zu einem neuen Markt (…) Zweitens und vielleicht schlimmer: Die Einbrüche, die es in den letzten Jahren durch kritische Sendungen in das Vorrecht/Monopol kapitalfreundlicher und bourgeoiser Meinungsäußerungen gegeben hat, sollen – soweit sie nicht inzwischen durch Zensur rückgängig gemacht werden konnten – durch ein neues wirkungsvolleres (da privatwirtschaftlich organisiertes) Meinungsmonopol aufgefangen werden.«⁹

Als Alternative entdeckte man den Betrieb eigener lokaler Rundfunkstationen für sich. Dabei ging es nicht mehr darum, als Selbstzweck ein paar Minuten auf Sendung zu gehen, um mit radikalen Durchsagen Post und Polizei zu ärgern. Vielmehr griffen die Initiatoren auf Brechts Radiotheorie zurück und träumten von »Freien Radios«, in denen der Unterschied zwischen Sendenden und Hörenden überwunden wäre.

»Freies Radio« im Dreyeckland

Eine besondere Mischung aus geographischen und politischen Gegebenheiten sorgte dafür, dass das bis heute wohl wichtigste »Freie Radio« nicht etwa in Westberlin, Hamburg oder Frankfurt am Main in Betrieb ging, sondern in der idyllischen Landschaft des Dreiländerecks von Frankreich, Deutschland und der Schweiz. Am 4. Juni 1977 meldete sich nach vorheriger Ankündigung pünktlich um 19.45 Uhr erstmals Radio Verte Fessenheim als Stimme der Gegner des Atomkraftwerks Fessenheim, dessen erster Reaktor trotz erbitterten Widerstands kurz zuvor in Betrieb genommen worden war. Als Reaktion darauf hatten Aktivistinnen und Aktivisten aus Frankreich, der Bundesrepublik und der Schweiz bei Heiteren den Platz um einen Strommast besetzt. Obwohl der kleine Sender nur wenige Kilometer weit reichte, sorgte die zwölfminütige Sendung für großes Aufsehen.¹⁰

Es blieb nicht bei der einen Sendung. Innerhalb weniger Monate entstand ein dreisprachiges internationales Projekt mit regelmäßigen Sendungen in deutscher, französischer und alemannischer Sprache. Aus dem kleinen Piratensender der Atomkraftgegner entwickelte sich ein ganzes Netzwerk einzelner Stationen in den verschiedenen Regionen des Dreiländerecks. 1979 wurde in Freiburg die »Antenne Freiburg, Kaiserstuhl und Markgräflerland« gegründet, die neben dem dreisprachigen Gemeinschaftsprogramm auch eigene Sendungen ausstrahlte, immer gejagt von der deutschen und französischen Polizei. Michael Karthäuser, einer der Radioaktiven der ersten Zeit, berichtete 2017 im Gespräch mit dem Deutschlandfunk über diese Jahre: »Das Sendeteam ist in der Regel auf einen höher gelegenen Berg im Schwarzwald oder im Kaiserstuhl gewandert. Und wenn man dann oben war und hatte den freien Blick über das Rheintal und Freiburg, dann konnte man sicher sein, das ist ein guter Sendestandort. Und wir hatten über ein Dutzend solcher Sendestandorte, die abwechselnd benutzt wurden. Und es hatte ja auch was Abenteuerliches. Das Sendeteam hatte oft ein Fernglas dabei. Und wenn man dann auf der Passhöhe einen VW-Bus gesehen hat, mit einer sperrigen Antenne drauf, dann konnte man sicher sein, das ist der Peilwagen von der Post. Und dann war es an der Zeit, die Sendung zu beenden und den Rucksacksender und sich selbst in Sicherheit zu bringen.«¹¹

Nachdem die französische Polizei noch im Oktober 1980 die Ableger von Radio Verte Fessenheim im Elsass mit Razzien überzogen hatte, änderte sich die Situation für das Netzwerk, als im Mai 1981 François Mitterrand die Präsidentschaftswahlen in Frankreich gewann. Die französischen Sozialisten hatten sich angesichts der ungehemmten Wahlkampfpropaganda für die Konservativen im staatlichen Rundfunk selbst gezwungen gesehen, nahe Paris einen Piratensender zu installieren. Bei einer Sendung wurde das Studio von der Polizei umstellt und auch Mitterrand selbst festgenommen. Nach seinem Einzug in den Élysée-Palast musste sich der neue Präsident nun selbst amnestieren und ordnete an, die Verfolgung der illegalen Sender bis zur Verabschiedung eines neuen Mediengesetzes einzustellen.¹²

Für Radio Dreyeckland (RDL), wie sich Radio Verte inzwischen nannte, bedeutete das, dass auf der französischen Seite der Grenze nun ganz offen Studios eingerichtet werden konnten. Auch für die »Badische Antenne« eröffnete das neue Möglichkeiten. Den Nachstellungen der deutschen Polizei und Bundespost entging man, indem man auf die französische Seite der Grenze auswich und begann, die Sendungen von den Vogesen aus zu verbreiten. Ab 1982 nahm man Livesendungen aus einem eigenen Studio in Colmar auf, ab 1984 sendete man täglich, forderte zugleich aber die Erteilung einer legalen Sendelizenz für RDL. Während 1985 im baden-württembergischen Landtag über ein neues Landesmediengesetz zur Zulassung von privatem Rundfunk beraten wurde, veranstaltete Radio Dreyeckland seinen »Radiofrühling«. Man verzichtete auf das sichere Exil und sendete vom Grethergelände aus, einem bis heute bestehenden alternativen Wohnprojekt in Freiburg. Der Polizei gelang es trotz wiederholter Großeinsätze nicht, die Anlagen zu beschlagnahmen. Tausende Menschen demonstrierten gegen die Repression und für ihren Sender: »Kein Kommerz auf Megahertz!«

Die Einführung des Kommerzrundfunks konnte die Bewegung zwar nicht verhindern, doch seit 1988 sendet Radio Dreyeckland legal auf UKW 102,3 MHz (und inzwischen auch im Internet auf www.rdl.de). Bis heute sind die Wurzeln spürbar, hört sich RDL anders an als das gewöhnliche Gedudel. So sendet man am Sonnabend tagsüber durchgehend fremdsprachige Sendungen, etwa »La Voix du Sud« auf französisch und arabisch, »Ech, Ajda« auf russisch oder »Aria Fritta« auf italienisch.¹³ Und auch der Staatsmacht ist Radio Dreyeckland noch immer ein Dorn im Auge. Am 17. Januar 2023 wurden die Studios des Senders sowie die Privatwohnungen von zwei Mitarbeitern von der Polizei durchsucht. Anlass war eine bereits Monate zuvor auf der Homepage von Radio Dreyeckland veröffentlichten Meldung über die Einstellung eines Ermittlungsverfahrens im Zusammenhang mit dem 2017 ausgesprochenen Verbot der Internetplattform »Linksunten Indymedia«.

Aktionsradios

Die Geschichte von Radio Dreyeckland blieb eine Ausnahme in der Mediengeschichte der Bundesrepublik. Zwar entstanden Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre Dutzende politische Piratensender, doch fast alle »Freien Radios« – etwa Radio Zebra in Bremen, Radio Pflasterstein in Göttingen oder Radio Isnogud in Frankfurt am Main – mussten sich auf kurze Sendungen aus dem Untergrund beschränken. Die Sendungen wurden auf Plakaten, Flugzetteln oder in alternativen Lokalzeitung angekündigt und dauerten selten länger als 15 Minuten. Trotzdem hieß es 1981 im Spiegel anerkennend: »Kein Zweifel: So, wie die alternative Szene sich eine eigene Presse mit zusammengerechnet Millionenauflage geschaffen hat, so hat sich die gegen die bürgerlichen Medien abgeschottete Gegenwelt der Groß- und Universitätsstädte ein eigenes elektronisches Kommunikationsnetz geschaffen.«¹⁴

Besondere Bedeutung gewannen die »Freien Radios« vor allem, wenn sie bei Großaktionen die Medienblockade durchbrechen konnten. Als »Lebensversicherung« bezeichneten Aktivisten zum Beispiel die Sendung von Radio Freies Wendland, das am 4. Juni 1980 stundenlang live und unzensiert von der Räumung des Hüttendorfs am »Bohrloch 1004« bei Gorleben in Niedersachsen berichtete. Ziemlich genau einen Monat zuvor hatten Tausende Atomkraftgegner auf dem Gelände ein Hüttendorf errichtet, um gegen den geplanten Bau eines Endlagers für Atommüll zu protestieren, und die »Freie Republik Wendland« ausgerufen.

In den etablierten Medien herrschte die Sichtweise der Regierenden vor, die wie Niedersachsens damaliger Innenminister Egbert Möcklinghoff (CDU) sogar von »Hochverrat« sprachen. Trotzdem war auch der NDR nicht wohlgelitten, als sich die Staatsmacht zum Angriff auf das Hüttendorf anschickte. Der Reporter, der live im Radio berichten sollte, wurde des Platzes verwiesen – »Anweisung von oben«. So wurde der Piratensender zur einzigen Stimme, die direkt von der Räumung berichten konnte. Neun Stunden lang übertrug man das Vorrücken der Uniformierten, während sich die Besetzer wegtragen ließen. Auf UKW hört der ganze Landkreis: »Die Leute, die abgeräumt werden, machen gar nichts und werden trotzdem zusammengetreten. (…) Es ist ein Wunder, dass sich der Rest noch an die Abmachung hält und nicht zurückschlägt, keinen Widerstand leistet.« Kurz vor Ende der Polizeiaktion kündigte ein Sprecher auf Radio Freies Wendland an, man müsse jetzt das Mikrofon vergraben und die Sendung abbrechen: »Der Kampf geht weiter!«¹⁵

Sieben Jahre später war es Radio Hafenstraße, das in Hamburg über mehrere Tage hinweg aus den hinter Barrikaden verschanzten Häusern sendete, deren Räumung der Senat anstrebte. Am 31. Oktober 1987, während Tausende Menschen für den Erhalt des Wohnprojektes demonstrierten, ertönte auf UKW der eindrucksvolle Jingle: Möwengeschrei, das Signalhorn eines Schiffes, Schüsse, dann die ersten Takte der »Internationale« – und die Ansage: »Radio Hafenstraße auf 96,8 MHz. Wir sind ein neuer freier Sender. Wir nehmen uns das Recht, öffentlich unsere Meinung zu sagen und uns darzustellen. (…) Mit Radio Hafenstraße setzen wir den täglichen Falschmeldungen und Lügen unsere Stimme entgegen.« Das sei ein »neuer Schritt in der Geschichte der freien Radios in Hamburg«, weil man einen fest installierten Sender habe und damit in der Lage sei, »ohne Ende zu senden«.¹⁶

Zunächst funkte man abends zwischen 18 und 22 Uhr, weitete den Betrieb aber schon nach wenigen Tagen auf rund um die Uhr aus. Das Programm bestand zunächst aus fast pausenlos gesendetem Punkrock, gerne in der härtesten Variante, nur selten unterbrochen von Parolen und kurzen Durchsagen. Allmählich entwickelte sich jedoch ein hörbares Programm, das in der alternativen Szene der Hansestadt populär wurde. Taxifahrer schalteten auf Radio Hafenstraße, um die gemeldeten Polizeisperren zu umfahren. Initiativen reichten Kassetten mit eigenen Beiträgen ein, die über den Sender verbreitet wurden, zum Beispiel über die Situation der politischen Gefangenen, den Freiheitskampf in Namibia oder andere Themen. »Wer schnell und umfassend über die Lage in der Hafenstraße informiert sein wollte, war beim privat-illegalen Rundfunk besser bedient als beim öffentlich-rechtlichen«, notierte der Spiegel am 22. November 1987 anerkennend. »Aus dem lärmenden Punk-Funk hatte sich allmählich ein Full-Service-Programm entwickelt.«¹⁷

Als am 6. November 1987 der englische Prinz Charles nebst Gemahlin seinen Besuch in der Hansestadt für eine Hafenrundfahrt nutzte, wurde er vom Dach der Häuser aus mit Leuchtkugeln und einem Transparent zur Solidarität mit der IRA begrüßt.¹⁸ Radio Hafenstraße spielte nordirische Protestlieder und kommentierte: »Heute war, von vielen seit Monaten erwartet, das englische aristokratische Vorzeigepaar Charles und Di in Hamburg. Typisch ist dabei vor allem gewesen, dass die Medien aus den beiden wieder einmal ein reines Heile-Welt-Symbol gemacht haben. (…) Weder werden sie als das gezeigt, was sie sind, nämlich die Repräsentanten eines zerrütteten ehemaligen aristokratischen Systems, noch geht irgendwer darauf ein, was die Bewohner Großbritanniens zu ihrem – in Tüddelchen – ›Traumpaar‹ sowie ihrer Regierung sagen. Wir haben heute versucht, dieser Oberflächlichkeit etwas entgegenzusetzen.«¹⁹

Nur noch ein »Wunder«, befürchteten damals viele, könnte in der aufgeheizten Situation angesichts der angedrohten Räumung eine brutale Straßenschlacht verhindern. Bei einer Räumung durch die Polizei und dem zu erwartenden Widerstand konnten auch Tote nicht ausgeschlossen werden. In dieser Situation zeigte Hamburgs Erster Bürgermeister Klaus von Dohnanyi (SPD) Größe und gab den Bewohnerinnen und Bewohnern am 16. November 1987 erstmals eine verbindliche Zusage (»Ich verpfände mein Amt«), mit ihnen einen Vertrag zu unterzeichnen, wenn bis zum folgenden Tag um 14 Uhr die Barrikaden beseitigt und noch einmal 24 Stunden später »die volle Zugänglichkeit der Häuser« hergestellt sei. Die Bewohner akzeptierten das Ultimatum und riefen dazu auf, dass möglichst viele Menschen anstelle der Barrikaden die Häuser schützen sollten.²⁰ Radio Hafenstraße mobilisierte die Abbauhelfer: »Es tut uns zwar sehr leid, aber es ist ein Plenumsbeschluss (…). Unsere wunderschönen Barrikaden sollen jetzt einfach mal abgebaut werden. Igitt!«²¹

Entsprechend der Vereinbarung zwischen Senat und Bewohnern stellten ein Architekt und ein Beauftragter des Senats am 19. November 1987 die »Begehbarkeit« der Wohnungen fest. Unmittelbar danach durchsuchten Staatsanwaltschaft und politische Polizei die Häuser. Den Sender fanden sie nicht. Radio Hafenstraße hatte in der Nacht zuvor den Betrieb mit einem »Gruß an den FC St. Pauli« eingestellt. Ein größeres Comeback feierte der Piratensender noch einmal im Mai 1989, als während des 800. Hamburger Hafengeburtstages eine große Polizeiaktion in den Häusern unwahrscheinlich war. Rund eine Woche lang sendete man Musik und berichtete von Aktionen, bevor man rechtzeitig vor Ende des Trubels wieder abschaltete.

Heute verzeichnet der Bundesverband Freies Radios (BFR) knapp drei Dutzend legal arbeitende Stationen als Mitglied. Neben Radio Drey­eckland und FSK aus Hamburg gehören dazu etwa Radio Z aus Nürnberg, Radio Lora aus München oder Radio Corax aus Halle.²² Viele von ihnen stellen ihre Sendungen auf dem gemeinsamen Onlineportal freie-radios.net zum Download und zur Übernahme auf gleichgesinnten Sendern zur Verfügung. Die Nutzungsbedingung entspricht der Tradition der Bewegung: »Hier darf jedeR stets hören und staunen, mit einer Einschränkung: Die kommerzielle Verwertung der Beiträge ist – auch in Auszügen – untersagt!«²³

Anmerkungen

1 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 225. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 27. März 1969, S. 12429; dserver.bundestag.de/btp/05/05225.pdf

2 Wolfgang Kraushaar: Die blinden Flecken der 68er-Bewegung. Stuttgart 2018, S. 415

3 »Bommi« Baumann: Wie alles anfing. Frankfurt am Main 1977, S. 72

4 Ulf Schönert: Vom »auditorium« zum »Zentralblatt für den Ausbildungssektor« (ZAS): Die Öffentlichkeitsarbeit des Allgemeinen Studentenausschusses der Universität Hamburg 1960–1970. Hamburg 1996, S. 96; sds-apo68hh.de/wp-content/uploads/2021/01/Magisterarbeit-Scho%CC%88nert-1.pdf

5 Vgl. Petra Fischer: Wandel öffentlich-rechtlicher Institutionen im Kontext historisch-politischer Ereignisse am Beispiel des Senders Freies Berlin. Berlin 2007, S. 248 ff.; refubium.fu-berlin.de/handle/fub188/8626

6 Flusslandschaft 1972: Stadtviertel; protest-muenchen.sub-bavaria.de/artikel/491

7 Strauß attackiert das Rundfunkgesetz – Das »Volksbegehren Rundfunkfreiheit«; protest-muenchen.sub-bavaria.de/artikel/1951

8 Bettina Hasselbring: Die Novellierung des Bayerischen Rundfunkgesetzes 1972 und seine Folgen; www.br.de/unternehmen/inhalt/organisation/geschichte-des-br/1972-novellierung-bayerisches-rundfunkgesetz-100.html

9 Christoph Busch, Freundeskreis Freie Radios Münster: Was Sie schon immer über Freie Radios wissen wollten, aber nie zu fragen wagten! Münster 1981, S.356 f.

10 Karlheinz Grieger, Ursi Kollert, Markus Barnay: Zum Beispiel Radio Dreyeckland. Freiburg 1987, S. 18

11 Philipp Schnee: Radio Dreyeckland – Das freie Radio als sozialer Ort; Deutschlandfunk Kultur, Podcast Länderreport, 30. Mai 2017; www.deutschlandfunkkultur.de/radio-dreyeckland-das-freie-radio-als-sozialer-ort-100.html

12 Karlheinz Grieger, Ursi Kollert, Markus Barnay, a. a. O., S. 39

13 rdl.de/programm

14 »Mia bracha a freis Radio«; in: Der Spiegel, Nr. 22/1981; www.spiegel.de/kultur/mia-bracha-a-freis-radio-a-1c38e09d-0002-0001-0000-000014334567

15 Vgl. André Scheer: Piratensender als Zeitzeuge; in: junge Welt, 4. Juni 2020; www.jungewelt.de/artikel/379573.gegen%C3%B6ffentlichkeit-piratensender-als-zeitzeuge.html

16 www.youtube.com/watch?v=f5ic8P-E40w

17 »Hönkel, Grummel, Hönkel, Grummel«; in: Der Spiegel, Nr. 48/1987; www.spiegel.de/politik/hoenkel-grummel-hoenkel-grummel-a-0f3f592b-0002-0001-0000-000013526731

18 Oliver Klebb: Als Charles und Diana Hamburg besuchten; www.ndr.de/geschichte/chronologie/Als-Charles-und-Diana-Hamburg-besuchten,charlesdianahamburg113.html

19 Hier spricht Radio Hafenstraße – Freies Radio in Hamburg, November 1987. Göttingen 1987, S. 19

20 Chronologie der Hafenstraße; www.nadir.org/nadir/archiv/Haeuserkampf/Hafenstrasse/doku.html

21 Hier spricht Radio Hafenstraße, a. a. O., S. 29

22 www.freie-radios.de/radios.html

23 www.freie-radios.net

Erschienen am 13. September 2023 in der Tageszeitung junge Welt