Gespräch mit Dr. Gustavo José Cobreiro Suárez: »Die Jugendlichen können sich nicht vorstellen, für das Studium zu bezahlen«

Dr. Gustavo José Cobreiro Suárez ist Rektor der Universität Havanna in Kuba. Der Bauingenieur war der letzte Kubaner, der noch in der Sowjetunion ein Studium beginnen konnte und dieses 1995 – bereits in Russland – abschloss. Er ist Abgeordneter des Provinzparlaments von Havanna und gehörte zwischen 2011 und 2016 dem Zentralkomitee der Kommunistischen Partei Kubas an.

Sie haben in den 1980er und 90er Jahren in Kuba und in der Sowjetunion bzw. Russland studiert und anschließend eine akademische Laufbahn eingeschlagen. Damit hatten Sie die Möglichkeit, das universitäre Leben sowohl vor als auch nach dem Ende der Sowjetunion zu erleben. Was waren Ihrer Ansicht nach die wichtigsten Veränderungen in diesem Zusammenhang?

Die 1990er Jahre waren für unser Land sehr hart. Innerhalb weniger Jahre verloren wir praktisch unseren gesamten Außenhandel. Ebenso wie im gesamten Land erlebten wir auch an den Universitäten großen Mangel. Aber keine einzige Hochschule wurde geschlossen, und kein einziger Student wurde aufgrund fehlender Mittel nach Hause geschickt. Sie behielten ihre Stipendien, ihren Platz in den Studentenwohnheimen und konnten ihr Studium abschließen.

Es hatte eine sehr enge Zusammenarbeit mit den sozialistischen Ländern gegeben, auch in der DDR wurden viele Kubaner ausgebildet und promovierten. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion, der deutschen Vereinigung und dem Ende des Sozialismus in Europa war das vorbei.

Auch die Lehrenden litten sehr unter dem Mangel, aber auch sie leisteten Widerstand, und inzwischen sind wir am Ende dieses Tunnels angekommen. Es waren sehr komplizierte Jahre, aber sie haben auch positive Resultate für unser Land hervorgebracht, zum Beispiel durch die beharrliche Suche nach alternativen Möglichkeiten. Diese Phase hat uns neue Horizonte eröffnet, denn wir haben den Austausch mit Ländern entwickelt, mit denen wir früher keine so intensive Zusammenarbeit hatten.

Während der sogenannten Besonderen Periode nach dem Verschwinden der sozialistischen Verbündeten wurden in den 1990er Jahren bereits Berufstätige zum Studium ermuntert und bezogen ihr Gehalt weiter, während sie die Universität besuchten …

Das war eine Reaktion auf die wirtschaftliche Lage insbesondere im Bereich des Zuckerrohranbaus. Es gab keinen ausreichend großen Markt für den kubanischen Zucker mehr, deshalb mussten zahlreiche Raffinerien geschlossen werden. Dadurch wurden natürlich Arbeitskräfte freigesetzt, aber die Menschen wurden nicht einfach auf die Straße geworfen. Sie erhielten die Möglichkeit zu studieren, sich fortzubilden, und dafür Stipendien zu bekommen, also weiter Geld zu verdienen. Das war eine sehr wichtige Idee, damit niemand seinem Schicksal überlassen blieb.

Genau in dieser Zeit wurde in der Bundesrepublik versucht, flächendeckend Studiengebühren einzuführen …

… während wir in Kuba die Studierenden für das Lernen bezahlen. Es gibt bei uns bis heute ein System von Stipendien. Sie sind nicht hoch, aber sie helfen den Familien und erlauben es den Studierenden, ihr gesellschaftliches Leben zu führen. Zudem haben alle Jugendlichen, die aus dem Inland zum Studium in die Städte kommen, Anrecht auf einen Platz im Studentenwohnheim mit garantierter Verpflegung. Es gibt für sie auch keine Einschreibegebühren.

All das ist eine Folge des Prinzips unserer Revolution von 1959 und der Hochschulreform von 1962, in deren Rahmen auch die Universitätskurse für Arbeiter, das Fernstudium und andere Angebote entwickelt wurden. Dadurch sollte es den Menschen ermöglicht werden zu studieren, denn in Kuba gab es damals gerade einmal drei Universitäten mit landesweit 15.000 Studenten – gegenüber einer Million Analphabeten zum Zeitpunkt des Sieges der Revolution. In Kuba Frau zu sein, Bauer, Schwarzer oder Mestize zu sein, war zu diesem Zeitpunkt praktisch gleichbedeutend damit, Analphabet zu sein.

Heute sind es 42 Universitäten, an denen rund 1,5 Millionen Menschen ihren Studienabschluss gemacht haben – bei einer Bevölkerung von gerade einmal elf Millionen Einwohnern. Der Anteil von akademisch ausgebildeten Kubanern an der Gesamtbevölkerung ist also hoch – und 60 Prozent dieser an Hochschulen ausgebildeten Absolventen sind Frauen. Das ist wichtig.

Und wie viele der 42 Universitäten Kubas werden von Frauen geleitet?

Ziemlich genau die Hälfte. In unserem Land wird eine Politik betrieben, gezielt den Frauen Macht zu geben. In Kubas Parlament, das im Frühjahr neu gewählt wurde, haben Frauen mehr als die Hälfte der Sitze inne. Die Hälfte der Abgeordneten sind außerdem Schwarze und Mestizen.

Wie haben sich die Inhalte des Studiums in Kuba gegenüber den 1980er Jahren verändert?

Die Lehrinhalte sind natürlich aktualisiert worden. Die Universitäten richten sich nach Lehrplänen, die für vier Jahre gelten. Im vergangenen Jahr haben wir damit begonnen, Studiengänge von vier Jahren Dauer einzuführen, in einigen Fächern gibt es außerdem auf zwei Jahre ausgelegte Schnellkurse. Auch die Postgraduiertenkurse wurden sehr ausgebaut. Früher haben wir fast alle Promotionskandidaten für ihre Doktorarbeit ins Ausland geschickt, heute werden die meisten in Kuba ausgebildet. Das hat auch mit der hohen Zahl an Doktoren zu tun, die wir in den 80er und 90er Jahren ausgebildet haben. So hat allein die Universität Havanna mit ihren aktuell 40.000 Studierenden 800 Lehrkräfte mit Doktorgrad.

Insgesamt werden in Kuba derzeit 100 verschiedene Studiengänge angeboten, 38 davon gibt es an der Universität Havanna. Wir haben einen ökonomischen und sozialwissenschaftlichen Schwerpunkt, zum Beispiel Geschichte, Soziologie oder marxistisch-leninistische Philosophie.

Ist das der offizielle Name dieses Studiengangs?

Ja. Der Studiengang heißt marxistisch-leninistische Philosophie, und in diesem Fach kann man natürlich auch promovieren. Es gibt viele junge Leute, auch aus kapitalistischen Ländern, die sich gerade für dieses Studium entscheiden, weil sie sich mit dem Marxismus beschäftigen wollen. Das ist eine sehr interessante Entwicklung.

Daneben haben wir den Bereich der exakten und Naturwissenschaften, etwa Mathematik, Mikrobiologie, Biochemie. Unser Netz besteht aus 18 Fakultäten und 13 Forschungszentren für angewandte Wissenschaften. Und wir haben den 600 Hektar großen Botanischen Garten, den größten Lateinamerikas.

Mal abgesehen vom Namen der Studiengänge: Woran merkt ein Student in Kuba heute, dass er in einem sozialistischen Land studiert und nicht zum Beispiel in der Dominikanischen Republik oder Puerto Rico?

Das ist eine sehr interessante Frage. Die Jugendlichen in Kuba betrachten ein Universitätsstudium heute als eine Selbstverständlichkeit, die nicht von den eigenen ökono+mischen Möglichkeiten abhängt. Nicht das Einkommen entscheidet darüber, ob jemand studiert oder nicht, sondern nur das Interesse. In Kuba garantiert der Staat jedem Abiturienten einen Studienplatz. Die Auswahl ist vielleicht nicht immer sehr groß, aber es steht jedem eine Hochschullaufbahn offen. Zudem gibt es die Möglichkeit des Fernstudiums, was noch mehr Menschen den Zugang zur akademischen Bildung eröffnet.

Viele der Menschen bei uns können sich überhaupt nicht vorstellen, dass man in vielen Ländern Europas dafür bezahlen muss, an einer Universität studieren zu können. In den USA ist es für ein Kind aus einer Arbeiterfamilie fast unmöglich, die Hochschule zu besuchen, oder auch in Mexiko und anderen Ländern. Und wenn du aus der Fremde kommst, musst du dich auch noch um Unterkunft, Essen, Trinken, Unterhalt kümmern. Das ist in Kuba anders, und das ist ein Ergebnis der Revolution.

Wie macht sich die anhaltende Blockade Kubas durch die USA im täglichen Leben der Universitäten bemerkbar?

Es gibt heute zum Beispiel de facto keine Möglichkeit mehr zum akademischen Austausch mit den Hochschulen in den Vereinigten Staaten. Unter Barack Obama waren einige Wege für den persönlichen Austausch geöffnet worden, kubanische Professoren hielten Vorträge in den USA und nordamerikanische Akademiker lehrten in Kuba. Und ganz entgegen dem Mythos, dass die Leute aus Kuba weglaufen, kamen auch Jugendliche aus den USA, um in Kuba zu studieren. Nach dem Regierungswechsel hat die neue Administration nur auf einen Vorwand gewartet – die merkwürdigen akustischen Angriffe, über die sich US-Diplomaten in Havanna beklagt haben –, um das Personal der Botschaft zu reduzieren, und heute ist es praktisch unmöglich, dort ein Visum für die USA zu bekommen.

Es scheint, dass diese Lücke teilweise durch europäische Universitäten geschlossen wird …

Wir haben sehr gute Beziehungen zu Hochschulen in Europa, auch in Deutschland. In der Bundesrepublik pflegen wir vor allem die noch aus der Zeit der DDR stammenden Beziehungen mit dortigen Universitäten, haben aber auch Kontakte mit Hochschulen in der früheren BRD aufgenommen.

Jedes Jahr organisieren wir zusammen mit der Humboldt-Universität zu Berlin Sommerkurse in Havanna, zu denen junge Deutsche kommen können. Mit Dresden gibt es einen jährlichen Austausch von Studierenden und Professoren. Es gibt eine sehr ernsthafte Kooperation. Ich arbeite sehr gerne mit Institutionen in Deutschland zusammen, denn wenn diese etwas zusagen, halten sie es auch. An der TU Berlin haben wir einen Kuba-Tag durchgeführt, ebenso im Botanischen Garten der Freien Universität. Und an der Uni Havanna gibt es einen Humboldt-Lehrstuhl, an dem die deutsche Sprache gelehrt wird.

Berührungsängste oder Vorurteile gibt es von seiten der deutschen Hochschulen nicht?

Nein, überhaupt nicht.

In den 1990er Jahren konnte ich an der Universität Matanzas erleben, dass dort fast die Hälfte der Studenten aus der Westsahara stammte und dort auf Grundlage eines Abkommens zwischen Kuba und der sahrauischen Befreiungsbewegung, der Frente Polisario, lernen konnte. Gibt es solche Abkommen auch heute noch?

Ja, die akademische Solidarität ist uns sehr wichtig. In den ersten Jahren der Revolution kamen zum Beispiel viele Chinesen nach Kuba, um Spanisch zu lernen. Wir hatten Tausende junge Menschen in den sozialistischen Ländern, und wir haben viele Studierende aus anderen Ländern Lateinamerikas und der Dritten Welt aufgenommen. In Kuba haben zum Beispiel mehr als 50.000 Jugendliche aus Afrika, Asien und Lateinamerika ihren Abschluss gemacht.

Anfang Mai haben wir an den 40. Jahrestag des Massakers von Cassinga 1978 durch die Truppen des südafrikanischen Apartheidregimes in Angola erinnert. Viele der Jugendlichen aus Angola und Namibia, die Anfang der 1980er Jahre zu uns kamen, waren solche, die damals ihre Eltern verloren hatten. Viele von ihnen sind heute Diplomaten oder arbeiten in den Regierungen ihrer Länder – und sind aus Anlass des Jahrestages wieder nach Kuba gekommen, um daran zu erinnern.

Aktuell empfangen wir allein an der Universität Havanna jährlich rund 8.000 ausländische Studierende. Ein Teil von ihnen kommt aufgrund von Abkommen auf Regierungsebene oder im Rahmen eines Austausches zwischen verschiedenen Universitäten. Das Prinzip ist dann: Wenn ich zum Beispiel zwei Studenten empfange und zwei entsende, wird nichts extra berechnet. Andere Studierende finanzieren ihren Besuch unserer Universität selbst. Das ist für uns etwas neues gegenüber früher, aber die Welt hat sich verändert – wer also die finanziellen Mittel hat, kann auf eigene Rechnung zum Studium nach Havanna kommen. Wer sich dafür interessiert, kann sich direkt an die Universität wenden. Wir sind da offen und flexibel, wir brauchen auch keine besonderen Papiere aus dem Herkunftsland.

Die meisten Gäste lernen hier Spanisch oder widmen sich für ein oder mehrere Semester spezifischen Interessen. Es gibt aber auch mehr als 1.000 ausländische Jugendliche, die hier in Havanna ihr komplettes Studium bis zum Abschluss und zur Promotion durchgeführt haben.

Erst kürzlich haben wir an der Universität Havanna zum Beispiel 4.000 chinesische Studenten ausgebildet. Sie haben im ersten Jahr Spanisch gelernt, dann hat ein Teil spanische Sprachwissenschaft studiert, andere Gruppen haben Medizin, Pharmazie, Pädagogik oder Tourismus belegt. Umgekehrt haben gut 100 junge Kubaner in China Chinesisch gelernt. Außerdem bietet China Stipendien für Kubaner an, die in der Volksrepublik studieren wollen.

Erschienen am 18. Juli 2018 in der Beilage »Unser Amerika« der Tageszeitung junge Welt