Francos Erben

Ermengol Gassiot ist Archäologe und lehrt an der Autonomen Universität Barcelona (UAB) Frühgeschichte. 2014 wurde der 1972 geborene Akademiker zum Generalsekretär des anarcho-syndikalistischen Gewerkschaftsverbandes CGT gewählt, für den er schon lange aktiv ist. So war er 2012 Beauftragter seiner Gewerkschaft an der Hochschule und Mitglied des Betriebsrates, als Studenten gegen hohe Studiengebühren und die Bildungspolitik der Regierung protestierten. Mehrere Wochen lang besetzten die Jugendlichen das Rektorat der Hochschule. Gassiot unterstützte bei einer Pressekonferenz ihre Ziele und verlangte eine klare Positionierung der Universitätsleitung gegen die Verschlechterung der Studienbedingungen. Nun ist er angeklagt. Die Staatsanwaltschaft fordert für den Professor, 25 damalige Studenten und einen Angestellten der Universität Haftstrafen von jeweils mehr als elf Jahren wegen »fortgesetzter Störung der öffentlichen Ordnung«. Dabei hatten die Besetzer die Räume damals freiwillig verlassen und sogar besenrein der Universität übergeben, wie spanische Journalisten schmunzelnd notiert hatten. Trotzdem bezifferte die Hochschulleitung die entstandenen Schäden im April 2013 zunächst auf 380.000 Euro – im Oktober 2016 war dagegen nur noch von 30.000 Euro die Rede. Für diese macht die Justiz nun die damaligen Besetzer verantwortlich.

Gassiot fühlt sich an die Justiz der Franco-Diktatur erinnert, weil es die Staatsanwaltschaft nicht für nötig hält, die Beteiligten konkret für Schäden oder Gesetzverstöße verantwortlich zu machen. Im Gespräch mit junge Welt sagte er: »Ein Staatsanwalt klagt uns 27 aller möglichen Untaten an. Doch wenn die Polizei einem Demonstranten ein Auge zerstört, kann niemand verurteilt worden, wenn nicht bewiesen wird, wer geschossen hat.« Gassiot spielte damit auf den Fall der Gewerkschafterin Ester Quintana an. Sie war während des Generalstreiks am 14. November 2012 so schwer von einem Geschoss der katalanischen Regionalpolizei Mossos d’Esquadra getroffen worden, dass sie ein Auge verlor. Die zwei deswegen angeklagten Polizisten wurden im vergangenen Mai aus »Mangel an Beweisen« freigesprochen, weil die Richter nicht ermitteln konnten, wer konkret den Schuss abgegeben hatte.

Im Gegensatz zu ihnen sitzt der während des Generalstreiks festgenommene Alfonso Fernández Ortega, der von seinen Freunden nur Alfon genannt wird, noch immer im Gefängnis. Der heute 25jährige stand Streikposten im Madrider Stadtviertel Vallecas, wurde dort festgenommen und zu vier Jahren Haft verurteilt. Selbst mit einer breiten Solidaritätskampagne, die bis in das spanische Parlament reichte, konnte der junge Mann bisher nicht freigekämpft werden.

Auch Andrés Bódalo sitzt im Gefängnis. Der Gewerkschafter aus Andalusien wurde im März 2016 inhaftiert, nachdem er in der Folge von Protesten gegen die hohe Arbeitslosigkeit festgenommen und zu dreieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt worden war. Er soll einen sozialdemokratischen Kommunalpolitiker angegangen haben.

Die Liste von inhaftierten Aktivisten ließe sich fortsetzen. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International spricht in ihrem letzten Jahresbericht, der im vergangenen Mai veröffentlicht wurde, von »unverhältnismäßigen Einschränkungen der Rechte auf freie Meinungsäußerung und friedliche Versammlung«. Polizisten können Geldstrafen verhängen, wenn sie sich von einem Demonstranten »respektlos« behandelt fühlen. Spontane Proteste vor öffentlichen Gebäuden sind weitgehend verboten. Und selbst das Dokumentieren von Übergriffen der Polizei kann für Journalisten und Fotografen vor Gericht enden.

Durch das Parlament gebracht wurden diese Bestimmungen 2015 durch die regierende Volkspartei (PP). Die Partei von Ministerpräsident Mariano Rajoy, dessen Wiederwahl die spanischen Sozialdemokraten im vergangenen Herbst durch ihre Stimmenthaltung im Parlament ermöglicht haben, hat ihre Wurzeln im spanischen Faschismus. Sie wurde wenige Monate nach dem Tod des Diktators Francisco Franco unter dem Namen Volksallianz (AP) von führenden Kadern des Regimes gegründet. Ihr langjähriger Chef war Francos früherer Informationsminister Manuel Fraga.

Die Partei ist bis heute stockreaktionär und in den ideologischen Vorstellungen des Franquismus verhaftet geblieben. So negiert sie nach wie vor die Tatsache, dass Spanien aus verschiedenen Nationen besteht. Mit besonderer Energie hetzt die PP-Regierung Spaniens Justiz auf »Separatisten« im Baskenland und in Katalonien. So listet die Hilfsorganisation Etxerat auf ihrer Homepage mehr als 270 Basken auf, die in Gefängnissen des Königreichs sitzen. Die Urteile gegen sie lauteten meist auf Mitgliedschaft in oder Unterstützung der Untergrundorganisation ETA. Viele der Betroffenen gehörten jedoch lediglich legalen Parteien an, die auf Antrag der spanischen Regierung verboten wurden, so 2003 Herri Batasuna, Euskal Herritarrok und Batasuna oder 2008 die Kommunistische Partei der Baskischen Heimat. 1998 waren die Tageszeitung Egin und die mit ihr verbundene Radiostation Egin Irratia illegalisiert worden. Zwar wurde das Verbot 2009 vom obersten Gerichtshof Spaniens aufgehoben und die vom Sondergericht Audiencia Nacional gegen die Journalisten verhängten Strafen halbiert – doch das Ziel der Repression war erreicht. Das Mutterunternehmen Orain SA ging bankrott, die von der Justiz beschlagnahmten Redaktionsgebäude verfielen. Zum Schweigen bringen ließ sich die baskische Linke aber nicht, sie gründete die Tageszeitung Gara.

Die ETA beendete 2011 ihren bewaffneten Kampf und erklärte ihre Bereitschaft, die Waffen abzugeben. Doch ein Friedensprozess wird von Madrid blockiert. »Die Regierung der PP unter Mariano Rajoy war und ist nicht an einem endgültigen Frieden interessiert, sondern will, dass der Konflikt fortgesetzt wird«, kritisierte Arnaldo Otegi am letzten Dienstag in einem Artikel für junge Welt. Der Vorsitzende der Linkspartei Sortu war erst im vergangenen März aus jahrelanger Haft entlassen worden. »Wie ist es möglich, dass eine seit fünfzig Jahren aktive bewaffnete Organisation im Besitz von Arsenalen voller Sprengstoff, Waffen und Munition inmitten Europas den Willen zeigt, ihre Waffen kontrolliert abzugeben – und ihr diese Möglichkeit verweigert wird?«

Mariano Rajoy und seine PP haben ein Interesse daran, das Gespenst ETA künstlich am Leben zu erhalten. Jede politische Lösung im Baskenland würde es ihnen erschweren, weiter eine politische Lösung in Katalonien zu verhindern. Ebenso wie im Baskenland strebt auch dort ein Großteil der Bevölkerung die Abspaltung von Spanien an. Ob es sich dabei um die Mehrheit handelt, wollen die politischen Kräfte der autonomen Region noch in diesem Jahr in einem Volksentscheid erkunden. Die Regionalregierung der Generalitat zeigt sich entschlossen, dieses Referendum notfalls auch ohne Zustimmung aus Madrid durchzuführen.

Schon 2014 hatte die katalanische Regionalverwaltung eine Volksbefragung angesetzt, die jedoch auf Antrag der spanischen Regierung durch das Verfassungsgericht verboten wurde. So fand am 9. November des Jahres eine rechtlich unverbindliche, von Basisaktivisten organisierte Abstimmung statt, an der etwa ein Drittel der Berechtigten teilnahm. Davon sprachen sich 80 Prozent für die Unabhängigkeit aus. Das Verfassungsgericht hatte zuvor jedoch auch diese Meinungsäußerung für illegal erklärt. Im Februar müssen sich deshalb der damalige Chef der katalanische Regionalregierung, Artur Mas, seine Stellvertreterin Joana Ortega sowie Bildungsministerin Irene Rigau vor Gericht verantworten.

Ende vergangenen Jahres eröffnete die Justiz zudem ein Verfahren gegen Parlamentspräsidentin Carme Forcadell und weitere Leitungsmitglieder der katalanischen Legislative. Ihnen werden »Amtsmissbrauch« und »Missachtung der Gerichte« zur Last gelegt, es drohen die Absetzung und der Entzug des passiven Wahlrechts. Anlass dafür ist, dass Forcadell im vergangenen Juli im Plenum eine Diskussion des Berichts eines Ausschusses zugelassen hatte, der Möglichkeiten einer »Abkoppelung« Kataloniens vom spanischen Staat untersucht hatte. Das Verfassungsgericht sieht schon darin ein Vergehen.

Erschienen am 14. Januar 2017 in der Beilage »Sozialistische Alternativen erkämpfen« der Tageszeitung junge Welt