junge Welt, 23. März 2023

»Die Kommunistische Partei spricht zu euch«

Klassenkampf im Äther – 100 Jahre Rundfunk in Deutschland. Teil 3.2: Der Deutsche Freiheitssender

Seit dem 10. Januar 1937 war auf der Kurzwelle 29,8 Meter (10.060 kHz) im Deutschen Reich ein neuer Sender zu empfangen, der offenkundig nicht unter Kontrolle der Nazis stand. Die Sendungen begannen mit den ersten Takten der »Internationale«, dann folgte die Ansage: »Achtung, Achtung! Hier spricht der antifaschistische Sender, die Stimme der Kommunistischen Partei Deutschlands! Trotz Gestapo!«¹

Im April 1937 übergab die KPD den Sender an den in Paris unter der Leitung von Heinrich Mann gebildeten »Ausschuss zur Vorbereitung einer deutschen Volksfront«. Erst ab diesem Zeitpunkt nahm 29,8 auch den heute bekannten Namen Deutscher Freiheitssender an, um damit den neuen, überparteilichen Charakter zu unterstreichen.² Die Deutsche Volks-Zeitung (DVZ) meldete die Namensgebung in ihrer Ausgabe vom 18. April 1937: »Welle 29,8 wird zum Organisator aller Kräfte, die für die deutsche Freiheit kämpfen. Und es zeugt in hohem Maße von der tiefen Verbundenheit der deutschen Kommunisten mit den deutschen Freiheitskämpfern, wenn sie jetzt ihren Sender der sich bildenden deutschen Volksfront zur Verfügung stellen. ›Deutscher Freiheitssender‹, so taufte der Vertreter des Zentralkomitees der KPD den Sender 29,8 auf der Volksfrontkonferenz in Paris in einer Erklärung, mit der er der werdenden deutschen Volksfront dieses brüderliche Geschenk überbrachte.«³

Kontrolle durch die KPD

De facto behielt die KPD jedoch die Kontrolle über das Programm. Das ließ sich schon aus Gründen der Konspiration kaum vermeiden, denn die direkt an den Sendungen beteiligten Genossen waren Kommunisten, und der Kontakt zu ihnen lief über die illegalen Strukturen der KPD. Hinzu kam, dass der Volksfrontausschuss aufgrund der schweren Differenzen zwischen den beteiligten Parteien nie wirklich arbeitsfähig wurde und damit auch nicht in der Lage war, die Arbeit des Senders auszuwerten und zu bestimmen. Vor allem aber blieb die sozialdemokratische Führung demonstrativ auf Distanz zum Freiheitssender. Im Neuen Vorwärts, der vom Exilvorstand der SPD zunächst im tschechoslowakischen Karlsbad – dem heutigen Karlovy Vary – und dann in Paris herausgegebenen Wochenzeitung, findet sich in der Zeit der Existenz von 29,8 kein einziger Hinweis auf den Sender. Erst im Oktober 1939 wurde der »bolschewistische Schwarzsender« in einer Glosse beiläufig erwähnt.⁴ Der Sozialdemokrat, die in Prag erscheinende Zeitung der Deutschen sozialdemokratischen Arbeiterpartei in der Tschechoslowakischen Republik, ging dagegen bereits wenige Wochen nach dem Start auf den Freiheitssender ein. Am 27. März 1937 zitierte das Blatt zunächst eine nicht namentlich genannte Zeitung, die hinter dem Geheimsender »eine illegale Sendestation oppositioneller Reichswehrgruppen« vermutet habe, weil es ausgeschlossen sei, »dass zivile Kreise eine so genaue Kenntnis der militärischen Verhältnisse haben können, die der Sender äußert«. Dann allerdings bemühte man sich, den Freiheitssender zu demaskieren: »Hier in diesem Aufsatz soll nun das gezeigt werden, was Goebbels und die Gestapo längst wissen. Es ist technisch unmöglich, dass dieser Sender mit der Wellenlänge 29,8 Meter, der in ganz Deutschland gehört wird, in Deutschland auch sendet.« Nach einer längeren Erläuterung der Ausbreitungsbedingungen kurzer Wellen kam der Autor, ein Kurt Doberer, zu dem Schluss, dass »Valencia und Madrid (…) für diese Wellenlänge ideal« lägen, »und da, wie aus einem Betriebsunfall des Ansagers ersichtlich, der Sender auf Welle 29,8 zugleich der Sender der italienischen Kommunistischen Partei ist, dürfte nicht allzuviel Rätselraten über den Sendeort notwendig sein.«⁵

Der Autor hatte recht: Die Gestapo war dem Standort des Senders schnell auf die Spur gekommen. In einem »Jahreslagebericht« des »Sicherheitsdienstes« der SS für 1937 wurde festgehalten: »Dieser Sender, dessen Standort sehr bald in Spanien, in der Nähe von Madrid, ausgepeilt werden konnte, meldete sich in der ersten Zeit als ›Sender der Kommunistischen Partei Deutschlands‹ und behauptete an jedem Abend aus einem anderen Orte Deutschlands zu senden.«⁶

Der genaue Standort des Freiheitssenders war eine Anlage in Pozuelo del Rey unweit der spanischen Hauptstadt. Dort hatte das deutsche Unternehmen Siemens-Schuckert im Februar 1936 den damals zweitstärksten Sender Europas errichtet, der Rundfunkprogramme nach Südamerika und Asien ausstrahlen sollte. Als die Republikaner nach ihrem Erfolg bei den Parlamentswahlen am 19. Februar 1936 die Regierung in Spanien übernahmen, brach der deutsche Konzern die Arbeiten ab. Um die Anlagen trotzdem in Betrieb nehmen zu können, mussten fehlende Bauteile besorgt werden. Das gelang über den Beschaffungsapparat der KPD in Paris. So wurden unter anderem Kristalle zur Stabilisierung von Kurzwellensendungen organisiert, die Siemens-Schuckert erst kurz zuvor entwickelt hatte.⁷

Mit Zustimmung des für die Medien zuständigen Bildungs- und Kulturministers Jesús Hernández Tomás, einem Mitglied der Kommunistischen Partei Spaniens, wurde der Sender – der offiziell nie in Betrieb genommen wurde – den Verbündeten der Republik für antifaschistische Sendungen ins Ausland zur Verfügung gestellt. Neben dem Deutschen Freiheitssender 29,8 liefen von dort aus zu anderen Uhrzeiten und auf anderen Frequenzen auch Sendungen in italienischer, bulgarischer und portugiesischer Sprache.⁸

Ganz zu Beginn war für die Sendungen nur ein Techniker zuständig, dem die Beiträge aus der Redaktion per Telefon direkt nach Madrid in das Mikrofon übermittelt wurden. Dann übernahm zunächst Otto Wahls alias »Börner« die Aufgabe des Sprechers, im Juli 1938 wurde er von Hanns Maaßen abgelöst. Das getarnte Studio befand sich mitten in Madrid, im ehemaligen Gebäude des katholischen Verlags Editorial Católica. Das Haus war nach dem Franco-Putsch beschlagnahmt worden und diente nun den Zeitungen Mundo Obrero der spanischen KP und Política der Republikanischen Linken als Redaktionsraum. Schon dadurch war in dem Gebäude viel »Laufkundschaft« zu verzeichnen, so dass die Anwesenheit von Ausländern nicht weiter auffiel. In den oberen Stockwerken befanden sich Wohnungen, von denen eine das Studio des Freiheitssenders beherbergte, und eine Pension. In dieser quartierte sich auch Maaßen ein, so dass er zur Arbeit nur ein Stockwerk tiefer gehen musste, »um eine bekannte Familie zu besuchen«. Pünktlich um 20 Uhr Ortszeit – in Deutschland war es da schon 22 Uhr – spielte er die »Internationale« und meldete sich dann mit der Ansage: »Achtung, Achtung! Hier spricht der Deutsche Freiheitssender auf Welle 29,8 – trotz Gestapo!«

Schwierige Bedingungen

»Die Atmosphäre in der belagerten Stadt, in der unser Studio stand, war nur dazu angetan, den kämpferischen Geist der Sendungen, die ich täglich sprach, zu heben«, erinnerte sich Maaßen nach dem Krieg. »Wie oft ist es mir passiert, dass mitten in der Sendung die Sirenen aufheulten und das E-Werk den Strom abschaltete. Nun arbeitete unser Sender natürlich mit eigenem Aggregat, die Lichtleitung war aber dem Ortsnetz Madrid angeschlossen. Dann musste ich die Sendung um einige Sekunden unterbrechen, bis ich meine Notbeleuchtung angezündet hatte. In solchen Fällen pflegte ich mich nicht bei meinen Hörern in Deutschland zu entschuldigen. Wie hätten sie mich auch verstehen sollen, noch hatten sie ja den Krieg nicht im eigenen Hause! Ich setzte dann meine Sendung einfach mit dem nächsten Absatz des Manuskripts fort.«⁹

Die Redaktion allerdings befand sich Hunderte Kilometer entfernt in Valencia, in der nach der Iberischen Anarchistischen Föderation benannten Calle de la FAI im Stadtviertel L’Eixemple. Der Straßenname wurde nach dem Sieg der Faschisten natürlich geändert, heute trägt sie den Namen Carrer del Dr. Sumsi.¹⁰ Als die spanische Regierung Anfang 1938 angesichts der näherrückenden Franco-Truppen von Valencia nach Barcelona übersiedelte, folgte ihr die Redaktion in die katalanische Metropole und richtete sie in einem Hochhaus an der Avinguda Diagonal ein, die damals in Erinnerung an das Datum der Ausrufung der Zweiten Spanischen Republik den Namen »14. April« (Avinguda del Catorze d’Abril) trug. Hier hatte auch das »Deutsche Büro« unter der Leitung von Franz Dahlem seinen Sitz, das den Kontakt zwischen der spanischen Regierung und den Internationalen Brigaden sicherstellte.

Verantwortlicher und zunächst einziger Redakteur des Freiheitssenders in Valencia war zunächst Gerhart Eisler, der in der DDR später das Staatliche Rundfunkkomitee leitete. Mitte 1937 wurde Eisler dann vom ZK der KPD nach Paris abberufen, um die »Berner Konferenz« seiner Partei vorzubereiten, die Anfang 1939 in der Nähe von Paris stattfand. Für ihn kam im August 1937 der gerade aus einem Zuchthaus der Nazis entlassene und aus Deutschland geflüchtete Hans Teubner. Zusammen mit dem zweiten Redakteur Erich Glückauf, der langjährige Erfahrungen als Journalist der kommunistischen Presse hatte, und den Sekretärinnen Lotte Spangenberg (»Erika«), Anni Sager und Else Teubner bildete er die Redaktion. Die Beiträge wurden nun nur noch in ganz dringenden Fällen telefonisch durchgegeben, im Normalfall transportierten sie Motorradkuriere der Internationalen Brigaden nach Madrid. Nachdem im April 1938 die faschistischen Truppen zum Mittelmeer durchbrechen und damit das von der legitimen Regierung kontrollierte Gebiet in zwei Teile aufspalten konnten, wurden die Texte auf Booten entlang der Küste nach Valencia gebracht, von wo sie dann mit Motorrädern oder Flugzeugen in die Hauptstadt weitergeleitet wurden. Es war Aufgabe Maaßens, aus diesen nur noch stockend und verspätet eintreffenden Manuskripten möglichst aktuelle Sendungen herzustellen.¹¹

Die Meldungen aus Deutschland hatten zu diesem Zeitpunkt oft bereits eine monatelange Odyssee hinter sich. Trotzdem herrschte bei vielen Hörern und ausländischen Beobachtern der Eindruck, dass 29,8 über die inneren Verhältnisse im »Reich« äußerst gut informiert war und schnell über Geschehnisse berichtete. Das dürfte jedoch vor allem daran gelegen haben, dass sie selbst zum ersten Mal von den geschilderten Ereignissen erfuhren und ganz selbstverständlich davon ausgingen, dass sie erst vor Kurzem passiert seien – zumal der Sender genaue Datumsangaben vermied. Tatsächlich lagen die Geschehnisse jedoch manchmal schon Monate zurück.

So notierte die DVZ am 21. November 1937, dass der Freiheitssender den Wortlaut eines »kürzlich im Saargebiet erschienenen Flugblattes« übertragen habe, in dem vom Widerstand der Bevölkerung »in Frankenthal und in vielen anderen Saardörfern« berichtet wurde, wo die Nazis versucht hätten, das Kreuz aus den Schulen zu entfernen: »Das gelang jedoch nicht, weil sich beherzte Männer für ihren Glauben einsetzten und trotz aller Folgen auch einen Erfolg zu verzeichnen hatten.« Die Ereignisse in Frankenholz – nicht Frankenthal, wie die DVZ geschrieben hatte – waren jedoch schon rund zehn Monate früher, Ende Januar 1937, durch eine Entscheidung des neuen Schuldirektors ausgelöst worden, die christlichen Kreuze abzuhängen und durch Hitlerbilder zu ersetzen. Ab dem 8. Februar blieben deshalb Kinder dem Unterricht fern, und in der Folge kam es sogar zu einem Bummelstreik der örtlichen Bergleute.¹² Schon am 28. März 1937 hatte die DVZ über diesen »Sieg der Saar-Volksfront« berichtet.¹³

Schneller reagierte der Sender natürlich bei Großereignissen, die auch in der internationalen Presse Widerhall fanden. So verbreitete der Freiheitssender im November 1938 innerhalb weniger Tage nach den antisemitischen Pogromen, die als »Reichskristallnacht« in die Geschichte eingegangen sind, einen Aufruf der KPD: »An alle Deutschen! Achtung! Achtung! Die Kommunistische Partei spricht zu Euch. Sie wendet sich an jeden anständigen Deutschen. Nieder mit den abscheulichen Judenpogromen, die Deutschland entehren! Nieder mit den abscheulichen Judenpogromen, mit denen die nationalsozialistische Diktatur versucht, ihre eigenen Verbrechen gegen das deutsche Volk vergessen zu machen. (…) Sind die Juden in Deutschland unterjocht, so kann auch das gesamte deutsche Volk nicht frei sein. Mit der Stunde der Befreiung der Juden von nationalsozialistischem Joch wird auch die Stunde der Befreiung des deutschen Volkes von diesem unwürdigen Regime schlagen.«¹⁴

Knappste Form

Neben den Schwierigkeiten bei der Informationsbeschaffung hatten die Redakteure und Sprecher des Freiheitssenders auch mit den Besonderheiten ihres Mediums zu kämpfen. Sie konnten kaum auf Erfahrungen mit dem Rundfunk zurückgreifen, denn seit den ersten Sendungen in Deutschland waren gerade einmal anderthalb Jahrzehnte vergangen, und das neue Medium entwickelte seine besonderen Ausdrucksformen erst noch. Aus der Weimarer Republik waren die Hörer Vorträge gewohnt, die kaum anders als bei einer Hochschulvorlesung daherkamen. Mit illegalen Ausstrahlungen, die sich auch noch gegen Störsender durchsetzen mussten, gab es praktisch keine Erfahrungen. Außerdem konnten die Macher in Spanien ihre eigenen Sendungen aufgrund der Ausbreitungsbedingungen der Kurzwellen selbst nicht hören und sich somit auch kein eigenes Bild machen. Vor diesem Hintergrund ist es wenig überraschend, dass der Tonfall der Programme – wie sich aus den wenigen erhaltengebliebenen Aufnahmen rekonstruieren lässt – an Vorträge auf Parteiversammlungen erinnert.

Am 7. März 1937 wandte sich ein nicht namentlich vorgestellter Sprecher – vermutlich Otto Wahls alias »Otto Börner« – an die »Verehrten Hörer, Genossen und Genossinnen« mit der Ansage: »Hören Sie jetzt einen Vortrag, wie Goebbels die Kriegsoffensive gegen die Tschechoslowakei einleitet.« Es folgte ein rund fünf Minuten langer Beitrag, in dem der Sprecher vom Blatt eine Analyse der neuesten Presseveröffentlichungen der Nazis ablas. Schon die langen Zitate aus der faschistischen Presse machten das Zuhören selbst bei einigermaßen störungsfreiem Empfang ermüdend.¹⁵

Rückblickend wiesen die Redakteure in einer im März 1939 für das Zentralkomitee der KPD verfassten Analyse selbstkritisch auf diese Erfahrungen hin, konnten sich aber noch immer nicht von der Sichtweise des Schreibenden lösen: »Beim Schreiben von Radioberichten oder Vorträgen ist es ratsam, die Einfachheit der Sprache zu ergänzen durch die Einfachheit der Beispiele. Nicht zu viele Zahlen! (…) Für das Radio darf man keine langen Berichte oder Vorträge schreiben. Nach Möglichkeit nichts länger als anderthalb bis zwei Schreibmaschinenseiten.«¹⁶ Ungefähr zur gleichen Zeit beschrieb auch Bertolt Brecht die besondere Herausforderung der Arbeit für eine illegale Rundfunkstation und begründete, warum er in seinen Beiträgen auf Reime und regelmäßige Rhythmen verzichtet hatte: »Die ›Deutschen Satiren‹ wurden für den Deutschen Freiheitssender geschrieben. Es handelte sich darum, einzelne Sätze in ferne, künstlich zerstreute Hörerschaft zu werfen. Sie mussten auf die knappste Form gebracht sein, und Unterbrechungen (durch die Störsender) durften nicht allzuviel ausmachen. Der Reim schien mir nicht angebracht, da er dem Gedicht leicht etwas In-sich-Geschlossenes, am Ohr Vorübergehendes verleiht. Regelmäßige Rhythmen mit ihrem gleichmäßigen Fall haken sich ebenfalls nicht genügend ein und verlangen Umschreibungen, viele aktuelle Ausdrücke gehen nicht hinein: der Tonfall der direkten, momentanen Rede war nötig. Reimlose Lyrik mit unregelmäßigen Rhythmen schien mir geeignet.«¹⁷

Nicht nur Brecht hatte Beiträge für den Freiheitssender verfasst. Die Liste der Gastautoren (und wenigen Autorinnen) liest sich wie ein Who’s who der fortschrittlichen Künstler und Intellektuellen jener Zeit: Willi Bredel, Ernst Busch, Albert Einstein, Lion Feuchtwanger, Ernest Hemingway, Stephan Hermlin, Egon Erwin Kisch, Heinrich und Thomas Mann, Jean Renoir, Erich Weinert und viele andere. Meist wurden die Statements schriftlich verfasst und dann vom Sprecher im Studio des Freiheitssenders verlesen, in einigen Fällen soll es aber auch in Paris angefertigte Schallplattenaufnahmen gegeben haben, die dann nach Spanien transportiert und über den Sender abgespielt wurden. So übermittelte der belgische Maler Frans Masereel über einen »ausländischen Vertrauensmann« eine »Ansprache an die Deutschen«, die von 29,8 verlesen wurde: »Deutsche Freunde, man kann nicht ohne Schmerz zu euch sprechen, aber noch weniger kann man schweigen und darauf verzichten, euch zu sagen, wie sehr die freien Menschen hoffen, dass ihr bald wieder ihr selbst sein werdet.«¹⁸ Ende 1938 strahlte 29,8 eine Botschaft des US-amerikanischen Schriftstellers Ernest Hemingway aus: »Bis heute sprach ich gewöhnlich an Sendern, die in großen Häusern aufgestellt waren. Heute liest mich, wie man mir sagt, ein Mann, der den Mut hat, seinem Volk die ganze Wahrheit zu sagen, die Wahrheit und nichts als die Wahrheit. Ich bin glücklich, dass dies möglich ist und drücke diesem unbekannten Kameraden die Hand.«¹⁹

Flucht im letzten Moment

Der »unbekannte Kamerad« saß zwar nicht, wie Hemingway vielleicht annahm, versteckt in einem Keller in Nazideutschland, doch die Umstände in Spanien waren kaum weniger dramatisch. Als die Faschisten im Januar 1939 vor Barcelona standen und die republikanischen Truppen die Stadt verließen, wären die verbliebenen Redaktionsmitglieder fast zurückgeblieben, wie sich Hans Teubner erinnerte: »Wir hörten das Krachen der Bomben bei uns in Barcelona. Aber da wir daran gewöhnt waren und wenig darauf achteten, merkten wir gar nicht, wie Barcelona bereits von den Faschisten umzingelt wurde. Als die republikanischen Truppen aus Barcelona herausgezogen wurden, wurden wir das nicht gewahr. Man hatte uns bei der Evakuierung faktisch vergessen. So verdanken es Erich Glückauf, Lotte Spangenberg und ich einem glücklichen Umstand, dass wir, nachdem wir eiligst noch unsere Materialien vernichtet und unsere Geräte zerstört hatten, mit einem der allerletzten Lastwagen aus der Stadt herauskamen.«²⁰ Der Sprecher Hanns Maaßen in Madrid setzte die Arbeit noch einige Wochen fort, nun fast vollständig auf sich allein gestellt. Als die spanische Hauptstadt im März 1939 fiel, geriet er in Gefangenschaft der Franco-Faschisten, aus der er erst 1946 nach internationalem Druck freigelassen wurde. Es blieb aber unentdeckt, dass er etwas mit dem Freiheitssender zu tun gehabt hatte.

Anmerkungen:

1 Hans Maaßen: »29,8« in aller Munde; in: Erinnerungen sozialistischer Rundfunkpioniere, Berlin/DDR 1975, S. 191

2 Hans Teubner: In deutscher Nacht auf Welle 29,8; in: Beiträge zur Geschichte des Rundfunks (1971), Nr. 4, S. 30

Deutsche Volks-Zeitung, 18.4.1937, S. 4

Rotbart – Alte Sage, neu ausgerichtet, Neuer Vorwärts, 8.10.1939, S. 4

Sozialdemokrat, 27.3.1937, S. 5

Jahreslagebericht 1937 des SD, Abt. II 121, vom 2.2.1938, Bundsarchiv R 58/2456, Bl. 18F

7 Vgl. Teubner (Anm. 2), S. 9 f.

8 Ebd., S. 10

9 Maaßen (Anm. 1), S. 191 f.

10 Vgl. Valencia y la República: Callejero; https://www.uv.es/republica/plano/calle/calle3.htm

11 Vgl. Hans Teubner: In deutscher Nacht auf Welle 29,8; in: Beiträge zur Geschichte des Rundfunks (1971), Nr. 4, S. 10f.

12 Der Schulstreik von Frankenholz, https://kurzelinks.de/Schulstreik

13 Deutsche Volks-Zeitung, 28.3.1937, S. 7

14 Deutsche Volks-Zeitung, 20.11.1938, S. 1

15 Hans Sarkowicz; Michael Crone (Hg.): Der Kampf um die Ätherwellen (Tondokumente), Frankfurt/M. 1990, Kassette 1

16 Einige Hauptpunkte über das Schreiben von Radiovorträgen und Berichten. In: Beiträge zur Geschichte des Rundfunks (1971), Nr. 4, S. 48 ff.

17 Bertolt Brecht: Über reimlose Lyrik mit unregelmäßigen Rhythmen; in: ders., Gesammelte Werke, Frankfurt/M. 1967, Bd. 19, S. 403

18 Frans Masereel: Eine Ansprache an die Deutschen, Deutsche Volks-Zeitung, 7.8.1938, S. 7

19 Ernest Hemingway: Man kann ein gescheites Volk nicht ewig verdummen, Deutsche Volks-Zeitung 11.12.1938, S. 1

20 Teubner (Anm. 2), S. 45

Erschienen am 23. März 2023 in der Tageszeitung junge Welt