Zwei Stimmen für den Frieden

Es war eine Überraschung, als Venezuelas Präsident Nicolás Maduro am 1. Mai 2017 während der Kundgebung zum Tag der Arbeit in Caracas den Spieß umdrehte und die Einberufung einer verfassunggebenden Versammlung, der Constituyente, ankündigte. Eine solche hatten führende Vertreter der Opposition in den Monaten und Jahren zuvor immer wieder gefordert, um die Regierung aus dem Amt zu drängen. Nun ging der Staatschef in die Offensive und begründete das damit, dass die Constituyente das Forum sein könne, um die Venezolaner zusammenzubringen und den Frieden im Land zu sichern.

Das südamerikanische Land wird seit Monaten von einer Protestwelle erschüttert. Zwar ist die Beteiligung an den anfangs nach Zehntausenden zählenden Großdemonstrationen der Regierungsgegner im Laufe der Zeit abgeebbt, doch militante Kleingruppen liefern sich nach wie vor Straßenschlachten mit den Sicherheitskräften. Bis Ende Juni wurden nach Angaben des vom Kulturministerium betriebenen Rundfunksenders Alba Ciudad mindestens 113 Menschen im Zusammenhang mit den Auseinandersetzungen getötet. Von diesen Opfern sollen jedoch lediglich neun Todesfälle auf das Handeln von Polizei und Nationalgarde zurückzuführen sein. Die anderen starben bei Unfällen, die durch errichtete Barrikaden und andere Verkehrshindernisse verursacht wurden, kamen bei Plünderungen ums Leben, wurden Opfer krimineller Banden oder starben, weil ihre eigenen Sprengsätze zu früh explodierten.

Venezuelas Oppositionsbündnis MUD (Tisch der Demokratischen Einheit) laviert seit Wochen und vermeidet eine generelle Distanzierung von der Gewalt. Statt dessen lassen sich führende Politiker von Rechtsparteien mit den Straßenkämpfern abbilden. Andererseits will man sich jedoch auch seriös geben, um als bürgerliche Alternative zum »sozialistischen Regime« von Präsident Maduro anerkannt zu werden.

Das politische Panorama in Venezuela wird noch dadurch verkompliziert, dass sich inzwischen immer mehr Stimmen Gehör verschaffen, die sich weder dem Regierungslager noch der MUD zuordnen lassen wollen. Gegen die Constituyente sprachen sich zum Beispiel Generalstaatsanwältin Luisa Ortega Díaz und die einstige Ombudsfrau der Bolivarischen Republik, Gabriela Ramírez, sowie mehrere frühere Minister aus. Während Politiker der PSUV sie in den staatlichen Medien als Verräter bezeichnen, setzen manche Unzufriedene ihre Hoffnungen in diese »kritischen Chavisten«. Die reale Stärke dieser »dritten Kraft« ist jedoch kaum einzuschätzen. Bei der Parlamentswahl 2015 waren die als »unabhängiges Lager« angetretenen Kräfte wie die sozialdemokratisch orientierte »Bewegung zum Sozialismus« (MAS) ohne Einfluss geblieben.

Gemeinsamer Nenner von rechter Opposition und »kritischen Chavisten« ist ihre Ablehnung der verfassunggebenden Versammlung. Der Vorwurf lautet, dass Maduro eine handverlesene Constituyente einberufen wolle, um die Magna Charta nach eigenem Gutdünken umschreiben zu können. Darauf deutet nach Ansicht der Regierungsgegner die Ansage Maduros bei seiner Rede am 1. Mai hin, dieses werde »keine Constituyente der Parteien und der Eliten, sondern eine des Volkes« werden. So sollten zum Beispiel die Arbeiter in den Fabriken, die Bewegung der Körperbehinderten, die Rentner oder die Indígenas ihre Delegierten selbst wählen.

Die knapp 20 Millionen wahlberechtigten Venezolaner haben deshalb zwei Stimmen. Eine geben sie – wie gewohnt – in ihrem jeweiligen territorialen Wahlkreis ab. Auf diese Weise werden 364 Mitglieder der Constituyente bestimmt. Mit einer zweiten Stimme entscheiden die Menschen jedoch über einen Repräsentanten, der ihre soziale Gruppe repräsentieren soll. 24 Mandate sind für Studenten, acht für Bauern und Fischer, fünf für Unternehmer, fünf für Menschen mit Behinderungen, 28 für Rentner und 79 für Arbeiter reserviert. 24 Mandate sollen die Sprecher der Kommunen, wie die lokalen Basisorganisationen der Volksmacht genannt werden, erhalten. Acht Abgeordnete werden von der indigenen Bevölkerung Venezuelas bestimmt. Definiert wird die Zugehörigkeit zur jeweiligen Gruppe durch die offiziellen Register, zum Beispiel die Einschreibeverzeichnisse der Hochschulen.

Problematisch gestaltete sich jedoch die Kandidatenaufstellung. Die genauen Regularien und Zeitpläne der Wahl wurden vom Nationalen Wahlrat (CNE), der für die Durchführung der Abstimmung zuständigen Behörde, erst sehr spät mitgeteilt. Entsprechend wenig Vorlauf hatten Aktivisten, die sich für eine Kandidatur interessierten, um sich mit anderen zu verständigen. Zudem hatten Aspiranten auch nur wenige Tage Zeit, um sich zu registrieren und die formalen Anforderungen für die Kandidatur zu erfüllen. So blieb kaum Zeit, damit sich unabhängige Kräfte koordinieren konnten. Vorteile hatte, wer sich mit dem Rückhalt einer starken Organisation zur Kandidatur entschloss, so zahlreiche namhafte Repräsentanten der Regierung wie Venezuelas Außenministerin Delcy Rodríguez oder der Vizechef der Vereinten Sozialistischen Partei Venezuelas (PSUV), Diosdado Cabello. Die Kommunistische Partei (PCV) kritisierte, dass die Büros der Wahlbehörde CNE in dem für die Einschreibung vorgesehenen Zeitraum komplett überlastet gewesen seien, so dass viele Bewerber keine Chance gehabt hätten, sich ordnungsgemäß anzumelden. Sie hat zusammen mit verbündeten Linkskräften eine Wählervereinigung »Union für den Fortschritt« (UPA 2017) gegründet, während die der PSUV nahestehenden Kandidaten als »Kongress des Heimatlandes« antreten. Daneben gibt es eine unabhängige Gruppierung unter dem Motto »Wähler für den Frieden«.

Insgesamt wurden letztlich 6.120 Kandidatinnen und Kandidaten zugelassen – von ursprünglich mehr als 50.000 Menschen, die ihre Bewerbung angemeldet hatten. Alle anderen hätten die formalen Anforderungen für die Beteiligung nicht erfüllt, erklärte CNE-Präsidentin Tibisay Lucena am 15. Juni. Bei vielen der abgelehnten Bewerber hat insbesondere für Unmut gesorgt, dass die Gründe für diese Diskrepanz nicht transparent gemacht wurden. Bei Regierungsgegnern galt dieses Ergebnis zudem als Beleg dafür, dass nur »handverlesene« Kandidaten die neue Verfassung ausarbeiten sollen.

Im Unterschied zu früheren Wahlen, bei denen sich der CNE durch eine international anerkannte professionelle Arbeit auszeichnete, ist die Vorbereitung zur Constituyente auch in anderen Fragen durch Hektik und Improvisation geprägt. Es ist offensichtlich, dass man die Wahl schnell ansetzen und über die Bühne bringen wollte. Das ist vielleicht der Tatsache geschuldet, dass im Dezember bereits der nächste Urnengang geplant ist, nämlich die seit dem vergangenen Jahr überfälligen Regionalwahlen.

Für die Opposition sind die Probleme im Umfeld der Wahlen ein gefundenes Fressen. Sie will durch Boykottaktionen und Sabotage die Durchführung der Abstimmung so stark behindern, dass die Constituyente durch eine extrem niedrige Wahlbeteiligung von Anfang an diskreditiert ist. Diese Strategie kann durchaus Erfolg haben, auch wenn einer am 9. Juli veröffentlichten Studie des Meinungsforschungsinstituts Hinterlaces zufolge 54 Prozent der Befragten dafür seien, »die aktuelle Verfassung zu verbessern, damit die sozialen Errungenschaften nicht verlorengehen«. Nur eine Minderheit glaubt zudem daran, dass Maduro die Constituyente nur deshalb einberufen habe, um an der Macht zu bleiben – 42 Prozent stimmen dieser von der Opposition verbreiteten These zu, während 56 Prozent das nicht glauben.

Die internationale Medienmacht hat Venezuelas Opposition aber auf ihrer Seite, so dass davon auszugehen ist, dass nach der Wahl am 30. Juli erneut eine weltweite Propagandakampagne über das Land hereinbrechen wird.

Erschienen am 26. Juli 2017 in der Beilage »Unser Amerika« der Tageszeitung junge Welt