Zoff zum Auftakt

Mit einem verbalen Schlagabtausch zwischen der sozialistischen Mehrheitsfraktion und den Abgeordneten der Opposi­tion hat die neugewählte Nationalversammlung Venezuelas am Mittwoch in Caracas ihre Arbeit aufgenommen. Den 97 Abgeordneten der Vereinten Sozialistischen Partei (PSUV), die von einem Parlamentarier der Kommunistischen Partei (PCV) unterstützt werden, stehen 65 Abgeordnete des Oppositionsbündnisses »Tisch der demokratischen Einheit« (MUD) und der Partei Heimatland für alle (PPT) gegenüber.

Zum neuen Parlamentspräsidenten wurde der frühere Guerillakämpfer Fernando Soto gewählt, der bis zu deren Anschluß an die PSUV Chef der kleinen marxistischen Partei »Sozialistische Liga« gewesen war. Das nahmen Vertreter der Opposition zum Anlaß, die Abwesenheit von zwei ihrer Fraktionskollegen zu kritisieren, die wegen krimineller Vergehen im Gefängnis sitzen. Der Oppositionsabgeordnete Alfonso Marquina von der »Demokratischen Aktion« (AD) erinnerte Soto daran, daß in den 60er Jahren ein Mitglied dessen damaliger Partei, David Nieves Banchs, aus dem Gefängnis entlassen wurde, nachdem er zum Abgeordneten gewählt worden war. Auf diesen Vorwurf reagierte noch im Plenum der PSUV-Vertreter Earle Herrera. Marquina fehle die »moralische Autorität« für einen solchen Angriff, denn es seien Mitglieder seiner eigenen Partei gewesen, die den Bruder des neuen Parlamentspräsidenten, Víctor Soto Rojas, nach dessen Verhaftung in den 60er Jahren aus einem fliegenden Hubschrauber geworfen und so ermordet hätten. Auf den Abgeordneten der Opposition laste die Verantwortung für 3000 Menschen, die in den Jahren der »Vierten Republik« –zwischen der Wiederherstellung der formalen Demokratie 1958 und dem Wahlsieg von Hugo Chávez 1998 – aus politischen Gründen ermordet worden seien, so Herrera.

Der Opposition war zuvor bereits aufgestoßen, daß sich die Mehrheit geweigert hatte, einen ihrer Vertreter in das neue Parlamentspräsidium zu wählen. Neben Soto gehören diesem Gremium nun zwei weitere Mitglieder der PSUV an: der frühere Bildungsminister Aristóbulo Istúriz und die einstige Informationsministerin Blanca Eekhout. Begründet wurde dies von den Sozialisten damit, daß nun »drei Generationen von Revolutionären« an der Spitze des Parlaments stünden. In diesem Sinne legte auch Soto seinen Amtseid ab. Er werde dafür arbeiten, die National- zu einer Volksversammlung zu machen, damit das »gestern noch unterjochte, unterdrückte und beherrschte Volk zum eigentlichen Gesetzgeber« werde. »Wenn ich diesen Schwur nicht erfülle, akzeptiere ich die härteste Strafe für einen Revolutionär oder eine Revolutionärin: den moralischen Tod. Ich unterwerfe mich dem Urteil unseres Volkes«, erklärte Soto.

Erschienen am 7. Januar 2011 in der Tageszeitung junge Welt