Originalpostkarten des Moskauer Senders aus dem Besitz des Autors

Offene Worte

Die tägliche Sendung für die Zuhörer in Österreich ist zu Ende, das deutschsprachige Programm von Radio Moskau verabschiedet sich von seinen Hörern in eine Pause. Kurz darauf ist auf den gleichen Wellen ein anderes Pausenzeichen zu hören, und dann die Ansage: »Hier ist der Sender Frieden und Fortschritt, die Stimme der sowjetischen öffentlichen Meinung.«

Der 1964 gegründete Sender war eine Ausnahme unter den Radioprogrammen der UdSSR, denn formell war er weder staatlich noch ein Organ der Regierung. Verantwortlich für Frieden und Fortschritt zeichneten verschiedene gesellschaftliche Organisationen, etwa der Schriftstellerverband, die Journalistenvereinigung, die Union sowjetischer Komponisten oder das Friedenskomitee. Zudem stand hinter dem Sender die Nachrichtenagentur Nowosti, deren Gründung 1961 auf die selben Organisationen zurückgegangen war und zu deren Aufgaben es gehörte, authentische Informationen über die Sowjetunion im Ausland zu verbreiten.

Seine besondere Rolle erlaubte es Frieden und Fortschritt, an Stellen Klartext zu sprechen, wo sich die offiziellen Kanäle diplomatische Zurückhaltung auferlegt hatten. Das zeigte sich schon daran, dass man nicht nur in vielen der auch von Radio Moskau bedienten Sprachen sendete, sondern auch Dienste anbot, die es beim staatlichen Auslandsrundfunk nicht gab. Dazu gehörten Hebräisch und Jiddisch für Israel oder das von Indígenas in Südamerika gesprochene Guarani.

Westliche Regierungen fürchteten noch in den 80er Jahren die Wirkung, die der Sender auf Hörer in der »Dritten Welt« haben könnte. Das geht aus einem im August 1982 vom US-Außenministerium erstellten Bericht hervor, der die »besondere Rolle« von Radio Peace and Progress hervorhob. Charakteristisch für die Programme sei, dass sie »offener und weniger ausgefeilt« als die des offiziellen Radio Moskau seien. Die »sorgfältig gewahrte Unterscheidung« zwischen beiden Programmen diene der Verbreitung von Material, »für das die sowjetische Regierung und die Kommunistische Partei keine Verantwortung übernehmen wollen«. So wies das State Department in dem Bericht darauf hin, dass der Sender Frieden und Fortschritt die irakische Regierung wegen der Verfolgung der dortigen KP attackiert habe, während die Staatsmedien »peinlich genau auf einen korrekten Umgang mit dem (…) Regime« geachtet hätten. 1986, als in Moskau Michail Gorbatschow bereits seine »Perestroika« initiiert hatte, beklagte die CIA in einem Bericht den »sowjetischen Auslandspropagandaapparat« und dessen »offenere und tendenziösere« Linie.

Hörbar war das auch in der BRD. Während es Radio Moskau tendenziell vermied, innenpolitische Entwicklungen in der Bundesrepublik zu kommentieren, sofern sie keine direkten Auswirkungen auf die Beziehungen mit der Sowjetunion hatten, nahm Frieden und Fortschritt kein Blatt vor den Mund. So solidarisierte man sich mit den Opfern der Berufsverbote und verglich diese Menschenrechtsverletzungen mit den Vorwürfen, die im Westen gegen das sozialistische Lager erhoben wurden.

Als immer deutlicher wurde, dass »Glasnost« und »Perestroika« nicht zu einer Erneuerung des Sozialismus führen würden, sondern zu seiner Abschaffung, war auch für den Sender kein Platz mehr. Im Mai 1991, gut ein halbes Jahr vor der Auflösung der UdSSR, stellte er seinen Betrieb ein.

Erschienen am 29. August 2019 in der Tageszeitung junge Welt