Titelblatt der UZ vom 7.12.2007

Knappe Niederlage

Titelblatt der UZ vom 7.12.2007"Wir haben den Krieg gegen Ungerechtigkeit und Ausgrenzung, gegen die Monopole, Großgrundbesitzer und gegen den Imperialismus nicht verloren. Wir sind sicher, dass wir in der Diskussion unter den Revolutionären die Lehren aus diesem Rückschlag ziehen werden", sagte am Montag der Generalsekretär der Kommunistischen Partei Venezuelas (PCV), Oscar Figuera. Einen Tag zuvor hatte das bolivarianische Lager in Venezuela zum ersten Mal seit 1998 eine Abstimmung nicht gewinnen können. Mit einer hauchdünnen Mehrheit von 50,7 zu 49,3 Prozent konnten sich die Gegner der von Präsident Hugo Chávez vorgeschlagenen Verfassungsreform durchsetzen und dadurch vorläufig verhindern, dass sich Venezuela offiziell zu einem sozialistischen Staat erklärt.

 

Präsident Chávez wandte sich unmittelbar nach der Bekanntgabe der ersten offiziellen Ergebnisse über alle Rundfunk- und Fernsehsender des Landes an die Bevölkerung, erkannte seine Niederlage an und gratulierte den Gewinnern der Abstimmung. Zugleich sagte er, dass er die knappe Niederlage einem ähnlich knappen Erfolg vorziehe. Tatsächlich hätte ein Erfolg der Verfassungsreform mit 50,7 Prozent eine schwierige Situation geschaffen. Nicht nur, dass sich die Opposition in Venezuela und die großen Massenmedien weltweit mit Betrugsvorwürfen überschlagen und vermutlich auch gewaltsame Ausschreitungen provoziert hätten, vor allem wäre eine solche Basis – die bei einer Wahlbeteiligung von etwas über 55 Prozent ja auch keine Mehrheit der Bevölkerung repräsentiert hätte – eine viel zu schmale Basis gewesen, um damit den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft zu legitimieren.

Die Ursache für ihre Niederlage müssen die Chavistas im eigenen Lager suchen, denn während die Opposition die Zahl ihrer Unterstützer gegenüber der Präsidentschaftswahl vor einem Jahr kaum steigern konnte, verlor das bolivarianische Lager rund drei Millionen Stimmen. Viele Menschen, die eigentlich Chávez und den revolutionären Prozess unterstützen, blieben der Abstimmung fern.

Einer der Gründe dafür war die nicht immer transparente Entstehung des letztlich zur Abstimmung stehenden Pakets. Chávez selbst hatte am 15. August nur 33 Änderungen vorgeschlagen, nach denen die Basisstrukturen mehr Rechte, die arbeitenden Menschen mehr soziale Sicherheit und die Regierung in einigen Punkten mehr Kompetenzen erhalten sollten. Im Verlauf der parlamentarischen Diskussion kamen dann 36 weitere Änderungen dazu, die neben guten Ideen auch Regelungen enthielten, die viele Chavistas für einen Rückschritt hielten. Dazu gehörten die Erhöhung der Prozenthürden für die Einberufung von Volksabstimmungen oder die Einschränkung der Informationsfreiheit im Falle des Ausnahmezustandes. Mit solchen Plänen öffneten die Parlamentarier ein Einfallstor für die Opposition, die erfolgreich von den sozialen Verbesserungen der Verfassungsreform ablenken und vor angeblichen diktatorischen Vollmachten der Regierung warnen konnte.

Es ist aber durchaus möglich, dass sich diese knappe Niederlage mittelfristig in einen strategischen Sieg der Revolution verwandeln wird. Nicht umsonst hat Präsident Chávez durch seine Formulierung, das Ziel sei "für den Moment" nicht erreicht worden, an seine legendäre Fernsehansprache nach dem Scheitern des von ihm geführten Aufstands vom 4. Februar 1992 erinnert. Die damalige Niederlage hatte Chávez populär gemacht und dadurch seine Wahl zum Präsidenten erst ermöglicht. Chávez sagte deshalb, der knappe Erfolg der Opposition könne sich für diese als "Pyrrhussieg" erweisen. Oscar Figuera teilt diese Einschätzung und sagte, dass die fortschrittlichen Kräfte einen "riesigen qualitativen Sprung" im Bewusstsein des Volkes erreicht hätten, denn "trotz einer höllischen Medienkampagne zur Manipulation uralter Ängste und historischer Vorurteile" stimmten mehr als vier Millionen Menschen für den Sozialismus. "Das zeigt, dass die Revolution einen aufsteigenden Kurs verfolgt und der Weg der richtige ist", so der Generalsekretär der venezolanischen Kommunisten.

Die Regierung Venezuelas hat unterdessen angekündigt, die im Rahmen der Verfassungsreform vorgesehenen sozialen Verbesserungen, soweit dies rechtlich möglich ist, auf dem Weg einfacher Gesetze einzuführen. So sprach sich Venezuelas Arbeitsminister José Ramón Rivero dafür aus, die Verkürzung des Arbeitstages auf sechs Stunden und die Absicherung der nicht sozialversicherten Werktätigen trotz der Ablehnung der Verfassungsreform einzuführen. "Der Präsident hat immer das Ziel verfolgt, die Forderungen und Vorschläge des Proletariats aufzugreifen, und nun müssen wir sehen, wie wir weiter voranschreiten können", so Minister Rivero. Der sozialistische Kurs der Bolivarianischen Revolution steht also auch nach dieser Niederlage nicht in Frage.

Erschienen in der Wochenzeitung UZ – Unsere Zeit vom 7. Dezember 2007