Kein nostalgischer Reflex

Henryk M. Broder ist sicherlich kein Freund der jungen Welt. Doch die große Solidaritätsveranstaltung am 28. Mai nötigte selbst ihm widerwillig Respekt ab. Mehr als 800 Teilnehmer seien in die Urania gekommen, schrieb er am 29. Mai in der Onlineausgabe der Welt – und übertraf damit noch die Veranstalterangabe von 750. Es sei wohl ein »nostalgischer Reflex« gewesen, der ihn dazu bewogen habe, an der Veranstaltung teilzunehmen. Doch dann habe er überlegt, »ob ich meinen Traum von einem Häuschen in Island aufgeben und nach Venezuela auswandern soll«.

Nostalgie war für die anderen Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Abends kein Grund für ihre Anwesenheit. Ihnen ging es darum, ein Zeichen der Solidarität mit dem angegriffenen Land zu setzen. Am selben Tag hatte Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) die Außenminister Lateinamerikas und der Karibik nach Berlin eingeladen, nur Venezuelas Chefdiplomat Jorge Arreaza sollte außen vor bleiben. Als Reaktion darauf fanden sich koordiniert durch die junge Welt mehr als 30 Initiativen, Parteien und Medien zusammen, um ihrerseits Arreaza einzuladen. Der musste sich letztlich entschuldigen, weil er in Oslo an den Verhandlungen mit der venezolanischen Opposition teilnehmen musste, richtete jedoch einen Gruß an die Teilnehmer: »Wir werden es schaffen, wir werden siegen, wir werden den imperialen Irrsinn stoppen.«

An seiner Stelle ergriff Venezuelas Vizeaußenminister Yván Gil das Wort, der den Versammelten auch die Grüße von Präsident Nicolás Maduro überbrachte. Es gehe bei der Auseinandersetzung in seinem Land nicht um das Schicksal einer Regierung oder einer Partei, es gehe um viel mehr. Der wichtigste Grund für die Aggression sei, dass Venezuela über die weltweit größten bestätigten Erdöl- und die viertgrößten Goldreserven verfüge und zudem geostrategisch wichtig in der Mitte des amerikanischen Kontinents liege. An dieser Stelle eine sozialistische Revolution durchführen zu wollen, könne man in Washington nicht hinnehmen.

Mehrfach wurde in den Beiträgen auf die seit Januar fast wöchentlich stattfindenden Kundgebungen vor der US-Botschaft am Brandenburger Tor hingewiesen. Gerhard Mertschenk vom Berliner Bündnis »Hände weg von Venezuela« unterstrich bei der Veranstaltung, dass man die Aktionen auch weiterhin fortsetzen werde: »Wir im Bündnis sind auch deshalb motiviert, weil bei uns Menschen aus Lateinamerika mitmachen. So haben wir Chilenen, die den Putsch 1973 gegen Salvador Allende miterlebten und Parallelen zu den damaligen Ereignissen sehen.« Er kündigte an, dass die Kundgebung am 15. Juni mit einer Demonstration verbunden werden soll, die sich gegen die manipulative Berichterstattung in den meisten deutschen Medien richtet. Treffpunkt ist wie üblich um 14 Uhr auf dem Pariser Platz.

Die Redebeiträge der Veranstaltung werden in der ­diesjährigen jW-Beilage »Unser Amerika« dokumentiert, die am 24. Juli erscheint.

Erschienen am 8. Juni 2019 in der Tageszeitung junge Welt