Ende und Anfang

Der Wahlausgang in Venezuela markiert den Anfang vom Ende – oder das Ende vom Anfang. Der in seinem Ausmaß überraschende Erfolg der rechten Opposition stellt das bolivarische Lager vor eine riesige Herausforderung. Wahrscheinlich werden die Rechten über eine Mehrheit in der Nationalversammlung verfügen, mit der sie jede Initiative des Präsidenten Nicolás Maduro blockieren können. Zudem wird die Opposition im kommenden Jahr ein Amtsenthebungsreferendum gegen den Staatschef anstreben und hätte nach den Erfahrungen vom Sonntag gute Chancen, ein solches auch zu gewinnen.

Die Wähler in Venezuela haben jedoch nicht für die Opposition gestimmt, die über kein gemeinsames Programm und keine gemeinsamen Führungspersönlichkeiten verfügt. Die Wahl war eine Abstimmung des Protests gegen die Regierung von Nicolás Maduro und seine sozialistische Partei PSUV, die in den vergangenen Monaten nicht in der Lage waren, der Wirtschaftssabotage und Destabilisierungskampagne der Rechten eine nachvollziehbare und wirksame Strategie entgegenzusetzen. Die immer gleichen Parolen und Reden verlieren ihre Wirksamkeit, wenn ihnen keine sichtbaren Fortschritte folgen.

Die Niederlage vom Sonntag kann aber genau deshalb das Signal gewesen sein, das notwendig war. Die »Boliburgesía« – so werden in Venezuela diejenigen genannt, die sich ein rotes T-Shirt anziehen, um einträgliche Jobs zu ergattern – wird sich nun schnell auf die Seite der Rechten schlagen. Auch in der PSUV wird es vermutlich Spaltungstendenzen geben, weil die Karrieristen sich umorientieren. Die Kraft jedoch, die bestehen bleibt und die den jetzt jubelnden Rechten machtvoll Kontra geben kann, ist die venezolanische Basisbewegung. Die Linken im Viertel 23 de Enero, in das sich die Rechten noch nie hineingetraut haben, werden sich die Errungenschaften der vergangenen 17 Jahre nicht einfach nehmen lassen. Dasselbe gilt landesweit für unzählige Gruppen, Komitees, Zirkel, Gewerkschaften und Parteien, wie etwa Venezuelas Kommunisten oder die linksradikalen Tupamaros.

Wenn es gelingt, diese vorhandene Bewegung zu koordinieren und auf ein gemeinsames Ziel zu vereinen, kann der Schock vom Sonntag das Ende vom Anfang gewesen sein – und der Beginn des Übergangs vom bolivarischen Prozess zu einer Revolution, die nicht nur eine Losung ist.

Erschienen am 8. Dezember 2015 in der Tageszeitung junge Welt