Kampf um Chávez’ Erbe

In Venezuela hat die rechte Opposition bei den Parlamentswahlen vom Sonntag zwei Drittel der Sitze in der Nationalversammlung errungen. Das geht aus dem Endergebnis hervor, das der Nationale Wahlrat (CNE) am Dienstag abend (Ortszeit) in Caracas veröffentlichte. Nach Übermittlung der Ergebnisse aus allen Wahlbezirken kam der »Tisch der demokratischen Einheit« (MUD) auf 109 Mandate. Hinzu kommen die drei Vertreter der indigenen Gemeinschaften, die auch aus dem Oppositionslager stammen. Zusammen sind das exakt die 112 Abgeordneten, die für die »qualifizierte Mehrheit« notwendig sind. Die bislang mit absoluter Mehrheit regierende Vereinte Sozialistische Partei Venezuelas (PSUV) und ihre Verbündeten kamen auf 55 Abgeordnete. Damit hat die Rechte weitgehende Spielräume, um Gesetze der vergangenen Jahre aufzuheben oder auch Minister des Kabinetts von Präsident Nicolás Maduro abzusetzen.

Die Opposition hat diesmal vom venezolanischen Wahlsystem profitiert, das die deutsche Konrad-Adenauer-Stiftung noch wenige Tage vor der Abstimmung als »ungerecht« bezeichnet hatte. Ebenso wie die venezolanische Opposition hatte die deutsche Stiftung gefordert, die relative Bevorzugung bevölkerungsschwacher Regionen aufzugeben und das landesweite Ergebnis der Wahlen direkt auf die Sitzverteilung des Parlaments zu übertragen. Das hätte bedeutet, dass die Opposition von ihrer jetzigen Mehrheit weit entfernt geblieben wäre. Die aus knapp 20 einzelnen Parteien bestehende MUD kam auf 7,7 Millionen Stimmen, was 56,2 Prozent entspricht. Der »Große Patriotische Pol« (GPP) aus PSUV, Kommunistischer Partei (PCV) und anderen Linkskräften erreichte mit 5,6 Millionen Stimmen 40,8 Prozent. Gegenüber der Wahl 2010 bedeutet das einen Verlust von 200.000 Stimmen, der sich wegen der gestiegenen Beteiligung jedoch in einem Minus von 7,3 Prozentpunkten ausdrückt. Demgegenüber gewann die Opposition 2,4 Millionen Stimmen beziehungsweise neun Prozent hinzu.

Der Kampf um die Verteidigung der Errungenschaften des bislang 17jährigen Prozesses in Venezuela hat bereits begonnen. Während etwa der Unternehmerverband Fedecámaras schon die Aufhebung des aktuellen Arbeitsgesetzes forderte, das den Beschäftigten umfangreiche Mitbestimmungsmöglichkeiten garantiert, kündigte die PCV an, gerade dieses mit aller Kraft verteidigen zu wollen. Ihr Sprecher Yul Jabour, der ebenso wie Parteichef Óscar Figuera sein Abgeordnetenmandat verteidigen konnte, rief zu »Kritik und Selbstkritik« auf. Man müsse erkennen, wer »die wahren Feinde« seien und warum es nicht gelungen sei, »dass unser Volk erkennt, welche Bedrohung der Kapitalismus darstellt«. Venezuelas Präsident Nicolás Maduro kündigte an, per Dekret ein für drei Jahre gültiges Gesetz zum Schutz der Arbeiter erlassen zu wollen. An die Landsleute gerichtet, die glaubten, dass die »Bösen« eine Lösung sein könnten, erklärte Maduro am Dienstag in einer Fernsehsendung: »Denkt nach und zieht eure eigenen Schlüsse. Hier seht ihr die konkreten Drohungen, und sie fangen erst an.« Übertragen wurde die Sendung »Contacto con Maduro« aus der Bergkaserne, in der der frühere Präsident Hugo Chávez seit seinem Tod 2013 ruht. Die Opposition will dessen Verlegung in ein gewöhnliches Grab auf einem Friedhof durchsetzen. Um das zu verhindern, übertrug Maduro die Eigentumsrechte an der Einrichtung an die Hugo-Chávez-Stiftung und warnte: »Rührt unseren Comandante nicht an!« Am Dienstag jährte sich zum dritten Mal die letzte Fernsehansprache des damaligen Präsidenten, in der er – bereits schwer erkrankt – seine Anhänger zur Geschlossenheit aufrief und Maduro als seinen Nachfolger nominierte.

Der bisherige Parlamentspräsident Diosdado Cabello kündigte an, dass die Nationalversammlung alle noch ausstehenden Aufgaben erledigen werde, bis ihr Mandat Ende Januar ausläuft. So sollen zwölf neue Richter des Obersten Gerichtshofs (TSJ) sowie der Ombudsmann noch von der bisherigen Mehrheit bestimmt werden. Das kann entscheidend sein, denn für manche Vorhaben braucht die Opposition trotz ihrer klaren Mehrheit die Zustimmung des TSJ.

Erschienen am 10. Dezember 2015 in der Tageszeitung junge Welt