Ein Besuch bei Baduel – So hätte ich mir einen General nicht vorgestellt

Die Ruhe und die leeren Straßen sind das erste, was auffällt. Wer nach einer zweistündigen Autofahrt aus der venezolanischen Hauptstadt Caracas kommend nach Maracay einfährt, registriert unweigerlich den Gegensatz zwischen der völlig überfüllten Acht-Millionen-Stadt Caracas und dem wohlhabenden und sauberen Maracay. Zwar gibt es auch in Maracay Arme, die in selbstgebauten Häuschen oder Hütten leben, aber das Stadtbild prägen sie nicht.

Vor dem städtischen Krankenhaus passieren wir eine kleine Demonstration von Oppositionellen. Diesmal sind es Studenten, die gegen irgendwelche Maßnahmen der Regierung protestieren. Gegen was genau, ist nicht ersichtlich, aber der Anlaß für die Kundgebungen ist zweitrangig. Die Opposition versammelt sich regelmäßig lautstark auf diesem Platz. Daß sie mit dem Lärm, den sie auf Kochtöpfen und mit ihren Autohupen verursachen, die Patienten im Krankenhaus stören könnten, kommt ihnen nicht in den Sinn. Kopfschüttelnd erklärt mir Doria Hernandez, wieso sich die Oppositionellen ausgerechnet diesen Ort für ihre Demonstrationen ausgesucht haben: „Vor einigen Monaten kam es mal zu Auseinandersetzungen zwischen den Demonstranten und der Nationalgarde. Die Polizisten setzten Tränengas ein, daraufhin zogen sich die Oppositionellen hierher zurück, weil sie davon ausgingen, daß die Polizei in der Nähe des Krankenhauses kein Tränengas einsetzen würde. Und hier sind sie geblieben. Sie benutzen also die Kranken als Schutzschild.“

Wir sind auf dem Weg zur Basis des in Maracay stationierten Fallschirmjägerbataillons. Ihr Kommandeur, der General Raúl Isaías Baduel, hat uns zu einem Gespräch eingeladen. In Venezuela ist er eine Berühmtheit. International bekannt wurde der General, als er sich während des Staatsstreichs im April 2002 nicht auf die Seite der Putschisten stellte, sondern seine Treue zur Verfassung bekräftigte und die Militäroperationen zur Befreiung des Präsidenten Hugo Chávez leitete.

Doch ein Militär, wie man ihn sich vielleicht vorstellt, ist General Baduel nicht. Als wir sein Büro betreten, wabert uns der Geruch von Weihrauch entgegen. Im Hintergrund laufen gregorianische Choräle. Aus dem Schrank ist eine regelrechter Altar geworden, Madonnen-Figuren stehen neben allerlei Kram – „alles Geschenke“, wie Baduel erklärt. Rechts an der Wand hängen neben dem Kruzifix chinesische Malereien, links auf der Anrichte sehe ich einige Flaschen mit sicherlich leckerem Inhalt und zwei Kisten, die laut Aufschrift kubanische Zigarren enthalten. Auf dem Schreibtisch stapeln sich die unterschiedlichsten Bücher: die Verfassung Venezuelas, die Heilige Bibel, Bücher über Taoismus, Meditation und Zen-Philosophie. Kontrastiert wird dieses etwas esoterische Ambiente von Panzerfiguren auf dem großen Fernseher sowie Säbeln und Gewehren, die um die Fahne Venezuelas drapiert sind. General Baduel empfängt uns in seiner Tarnfarbenuniform freundlich und reicht jedem die Hand: „Früher wäre ein solcher Besuch mit sehr viel mehr Protokollarischem verbunden gewesen, aber heute sind wir alle ein Volk. Ob mit oder ohne Uniform, es macht keinen Unterschied, wieviele Sterne jemand auf der Schulter trägt, wir sind alle Soldaten des revolutionären Prozesses“.

Natürlich interessiert uns besonders seine Rolle beim Putsch am 11. April 2002. Damals war eine Großdemonstration der Opposition von den Veranstaltern zum Präsidentenpalast Miraflores gelenkt worden, wo sich bereits Zehntausende Anhänger der Regierung zur Verteidigung des Palastes eingefunden hatten. Als sich die beiden Demonstrationszüge gegenüberstanden, fielen Schüsse. Aus umliegenden Hochhäusern wurde auf die Demonstranten gefeuert. Das war der Vorwand für das Oberkommando der Streitkräfte, eine bereits zuvor aufgenommene Erklärung über alle Fernsehsender ausstrahlen zu lassen, in der die Generäle der Regierung die Gefolgschaft aufkündigten. Präsident Chávez wurde verhaftet und verschleppt, über Radio und Fernsehen wurde behauptet, er sei zurückgetreten, während sich der Vorsitzende des Unternehmerverbandes Fedecámaras, Pedro Carmona Estanga, selbst als Präsident vereidigte. Der Putsch scheiterte innerhalb von nur 48 Stunden, nachdem sich mehrere Millionen Menschen vor dem Präsidentenpalast und vielen Kasernen versammelten und die Mehrheit der Streitkräfte sich hinter die Verfassung stellte.

„Den ersten Hinweis, daß etwas geplant wurde, bekamen wir bereits am 5. April“, berichtet Baduel. Da man aber keine Beweise gehabt hätte, habe man zu diesem Zeitpunkt noch nichts unternehmen können. Drei Tage später seien dann plötzlich Gerüchte gestreut worden, er selbst würde einen Staatsstreich vorbereiten. „Man wollte einen Grund finden, mich von meinem Posten zu verdrängen. Ich wurde unter einem Vorwand an einen anderen Standort beordert, und dann kamen in meiner Abwesenheit Ermittler des Oberkommandos, die meine Offiziere festsetzten und stundenlang verhörten. Meine Offiziere waren sehr verärgert, denn sie waren praktisch verhaftet worden und die Verhöre liefen in einer erniedrigenden Atmosphäre ab“, so Baduel. Wiederum zwei Tage später, am 10. April 2002, bekam General Baduel Besuch von einer Delegation des Unternehmerverbandes Fedecámaras und anderer Oppositionsgruppen, die ihm vorschlugen, die Macht im Staat zu übernehmen und dem General sogar ein bereits fertig ausformuliertes Kommuniqué vorlegten. Bis zu einer halben Milliarde US-Dollar wurde dem General von den Oppositionellen geboten, wenn er sich den Putschisten anschlösse.

„Ich bin mit Hugo Chávez eng befreundet, seit wir gemeinsam auf der Militärakademie studiert haben“, erklärt Baduel einen der Gründe für seine Treue zum heutigen Präsidenten und zur 1999 in einer Volksabstimmung angenommenen Verfassung. „Venezuela unterscheidet sich von anderen Ländern Lateinamerikas durch seine Geschichte des Kampfes um die Unabhängigkeit“, erklärt der General. „Im Kampf um die Befreiung von den Spaniern und später im Bürgerkrieg gegen die Großgrundbesitzer wurden alle sozialen Barrieren überwunden. Das hat sich in den Charakter der Venezolaner eingegraben: auch wer reicher ist als ich, ist nicht mehr wert. Deshalb hat es auch immer eine enge Verbindung zwischen dem Militär und dem Volk gegeben. In anderen Ländern gibt es diese Verbindung nicht, da haben sich richtige Militärkasten herausgebildet. Deshalb ist unsere Aktion im April 2002 auch beispiellos in der Geschichte: ein Volk und eine Armee verweigern gemeinsam einer kleinen Gruppe, die Macht im Land zu übernehmen.“ Eine weitere Quelle seiner Überzeugungen ist fernöstliche Religion, obwohl der General katholisch ist: „Ich bin in Bezug auf Religion sehr tolerant.“ Es folgt ein kompakter Vortrag über Tao- und Zen-Philosophie und Lao-Tse: „Für mich gilt der Lehrsatz: Der beste Soldat ist derjenige, der nicht kämpfen will, der den Kampf vermeidet, so lange es geht.“

Der General hat ein Problem. Seitdem der Oberste Gerichtshof im vergangenen Jahr in einer Mehrheitsentscheidung das bizarre Urteil fällte, daß es in Venezuela keinen Putsch, sondern ein „Machtvakuum“ gegeben habe, in dem einige Militärs „geleitet von guten Absichten“ die Regierung übernahmen, darf Baduel die Putschisten nicht mehr so nennen. Und so beschränkt er sich darauf, von „den Ereignissen“ zu reden, doch jedem im Raum ist klar, was er meint. „Nach der Entscheidung des Gerichts kamen einige Soldaten zu mir. Sie fragten mich: ‚Wenn das kein Putsch war, was haben wir dann gemacht?‘ Was sollte ich den Muchachos antworten?“

Als sich am 12. April Carmona selbst zum Präsidenten ausrief und per Dekret die Verfassung außer Kraft setzte und Abgeordnete, Richter und andere Funktionsträger ihrer Ämter enthob, begann sich General Baduel mit seinen Untergebenen zu beraten. Er stellte die Offiziere vor die Wahl: wer sich nicht an dem Kampf gegen die Putschisten beteiligen wolle, solle es sagen. Man werde seine Position respektieren und ihn nicht zu Aktionen zwingen, man werde ihnen aber das Verlassen der Kaserne bis zum Ende der Aktion untersagen. Die Fallschirmjäger und ihre Garnison in Maracay sind von besonderer strategischer Bedeutung in Venezuela, denn wer das Kommando über diese Truppen und die dort stationierten Kampfflugzeuge hat, ist nur schwer zu besiegen. In dieser Situation zahlte sich die enge Verbindung zwischen den Soldaten und der Bevölkerung aus. Vor allem aus den weit entfernten armen Vierteln der Stadt, aber auch aus bürgerlichen Gegenden kamen erst einzelne, dann immer mehr Menschen zu der Kaserne, die zu diesem Zeitpunkt nur von einigen Barrieren gesichert war. General Baduel ist gewohnt, daß vor der Kaserne Parolen gegen die Regierung skandiert und auch die Soldaten beleidigt werden. Die Wachen haben strengen Befehl sich nicht provozieren zu lassen. Doch die Menschen, die sich am späten Abend des 12. April 2002, die ganze Nacht hindurch und dann schließlich in Massen am Morgen des 13. April vor der Kaserne versammelten, wollten ihre Verbundenheit mit den Soldaten bekunden. Sie zweifelten nicht daran, daß sich General Baduel auf die Seite der Verfassung stellen würde. Dieser hatte seine Position bereits am Vorabend in einem Kommuniqué deutlich gemacht, das aber von kaum einem Fernseh- oder Radiosender in Venezuela verbreitet wurde. Als der General am Morgen die vor der Kaserne wartenden Reporter der privaten TV-Stationen aufforderte, seine Erklärung direkt zu übertragen, behaupteten diese, das sei aus technischen Gründen nicht möglich. „Ihr seid seit gestern hier mit allen euren Geräten, und jetzt plötzlich könnt ihr nicht senden?“ Es war klar, daß die Sender nicht über den anwachsenden Protest gegen die Putschisten informieren wollten, auf dem Bildschirm liefen Zeichentrickfilme und Telenovelas.

Aus der Kaserne heraus wurden die Einheiten im ganzen Land aufgefordert, nicht mehr den Befehlen des Oberkommandos zu gehorchen, sondern den Anordnungen von General Baduel und anderen hohen Offizieren zu folgen, die mit der „Operation Rückgewinnung der Würde“ die verfassungsmäßige Ordnung wieder herstellen wollten. 80 Prozent der Kommandierenden der Streitkräfte folgten diesem Aufruf und stellten sich gegen die Putschisten. Auch mit den Soldaten, die den Präsidenten Chávez bewachten, hatte man Kontakt. Um 19.30 Uhr erhielt General Baduel die Notiz, die Chávez mit Hilfe eines jungen Soldaten am Nachmittag aus der Gefangenschaft schmuggeln konnte: „Ich bin nicht zurückgetreten!“ Unter brausendem Jubel der vor dem Stützpunkt versammelten Menschen verlas Baduel den Brief: „Ich versichere euch, es ist die Handschrift des Präsidenten und seine Unterschrift!“ Den Soldaten, von denen Chávez bewacht wurde, teilte Baduel mit: „Wir wollen kein Blutvergießen und keine Gewalt, aber wenn der Präsident nicht freigelassen wird, sind wir zu allem bereit.“ Wenige Stunden später kehrte Präsident Chávez nach Caracas zurück.

Heute ist das wichtigste Schlachtfeld des Generals die Lebensmittelversorgung der Bevölkerung. General Baduel gehört zu den Koordinatoren des „Mercal“-Projektes. In diesen Märkten kann die Bevölkerung die wichtigsten Grundnahrungsmittel zu Preisen unter denen in normalen Supermärkten erwerben. Möglich macht dies die Zusammenarbeit zwischen Regierung und Armee. Das zuständige Ministerium kauft die Lebensmittel massenhaft beim günstigsten Anbieter auf und mit einem Aufschlag von drei Prozent an die Läden weiter, die ihrerseites gesetzlich nur 10 Prozent auf diesen Preis aufschlagen dürfen. Den Transport und die technische Unterstützung besorgen die Streitkräfte.

„Die Aufgabe der Armee ist der Aufbau des Landes“, sagt General Baduel. „Deshalb beteiligen wir uns aktiv an sozialen Projekten und an der gemeinsamen Arbeit mit den Gemeinschaften vor Ort.“ Soldaten bauen Straßen und Häuser, Militärische und zivile Fallschirmspringer trainieren gemeinsam und organisieren gemeinsame Veranstaltungen. „Wir sind in Venezuela ein Kaffee mit Milch, in einigen ist mehr Kaffee und in anderen mehr Milch“ zeichnet Baduel ein schönes Bild des Zusammenlebens. „Deshalb hat niemand das Recht, unsere Institutionen zu schwächen und Krisen zu provozieren oder auszunutzen, um gewaltsame Auseinandersetzungen anzuzetteln.“

Artikel vom 1. Oktober 2003