Catuche – Ein Beispiel bolivarianischer Demokratie

"Ich hätte auch lieber kleine, weiße Häuschen gebaut, aber die Leute wollten das nicht." César Martín hat es schwer. Er arbeitet als Architekt im Barrio Catuche, einer der unzähligen wilden Siedlungen aus selbstgebauten Häuschen und Hütten, die sich rings um die venezolanische Hauptstadt Caracas die Berghänge hochziehen. Die Menschen kamen meist aus dem Landesinneren auf der Suche nach Arbeit in die schon völlig überfüllte Stadt. Sie siedelten an Bächen und Rinnsalen, um zumindest dieses Wasser zu haben. Doch die Nähe zum Wasser und das Leben am Berghang wurde den Menschen von Catuche zum Verhängnis, als Ende 1999 tagelange Regenfälle den Bach anschwellen ließen und der Berg ins Rutschen kam. Mehrere Hundert Hütten begrub der Schlamm unter sich.

Catuche liegt in der Parroquía La Pastora, einer noch von der Kolonialzeit geprägten Gegend an den Hängen des Avila im Norden der Hauptstadt. Anfang der 90er Jahre ergriff der damalige Bürgermeister des Regierungsbezirks El Libertador, zu dem nicht nur die Innenstadt von Caracas, sondern auch die Gegend um La Pastora gehört, die Initiative zu einer großangelegten Restaurierung und Konservierung der historischen Gebäude. Auch die Menschen von Catuche sollten von den Baumaßnahmen profitieren, kündigte der heutige Bildungsminister der venezolanischen Regierung an, aber in den Mühlen der Bürokratie versickerten die meisten Gelder und Initiativen. Doch diese Initiative wie auch das missionarische Wirken einiger Kapuziner-Mönche führte zur Bildung von Nachbarschaftsvereinigungen. Das sollte sich auszahlen, als der Regen kam. Als die Regenfälle im stärker wurden, ergriffen die Komitees erste Maßnahmen und informierten die mehreren Hundert Bewohner der am meisten gefährdeten Hütten. 800 Familien, insgesamt rund 4000 Menschen, mußten ihr Zuhause verlassen. Doch 15 Menschen, die sich bis zum Schluß weigerten, ihre Hütten zu verlassen, konnten nicht mehr gerettet werden.

Vor der "Tragedia", der Tragödie, galt Catuche als eines der gefährlichsten Viertel von Caracas. Vier bis fünf Tote waren Woche für Woche zu beklagen. Wer das Pech hatte, dort leben zu müssen, verschwieg gegenüber Arbeitgebern und Bekannten seinen Wohnort. Catuche war vor allem als Durchgangsviertel für Kriminelle aller Art berüchtigt, denn wer aus den bürgerlichen Vierteln der Hauptstadt in dieses Viertel entkam, konnte praktisch von einem Barrio in das nächste bis zur Küste wandern, ohne jemals wieder in die eigentliche Hauptstadt kommen und ohne irgendwo den Zugriff der Polizei befürchten zu müssen. Und so schützt heute ein festes Stahltor den Zugang zum Barrio Catuche, eine Frau mittleren Alters beäugt mißtrauisch jeden, der Zutritt begehrt.

Hinter dem Stahltor beginnt das "Neue Catuche". Hier arbeitet der Architekt César Martín am Bau neuer Hochhäuser, die den Opfern der Unwetterkatastrophe endlich eine neue, sichere Bleibe bringen soll. 400 Menschen sollen hier ein neues Obdach finden. "Wir sind bei dem Bau alle Handelnde", erklärt Pedro Serrano von der Bürgervereinigung Catuches, der als gewählter Vertreter der Bewohner ein kleines Gehalt bezieht. "Wenn Entscheidungen zu treffen sind, trifft sich unser Komitee und berät die Details. Dann berufen wir eine Vollversammlung der ganzen Gemeinschaft ein, von der dann die endgültige Entscheidung getroffen wird. Und bei diesen Beschlüssen müssen alle zustimmen, wenn einer dagegen ist, wird es nicht gemacht." Trotzdem gehen die Bauarbeiten gut voran, die ersten 100 Familien können im Oktober ihre neuen Wohnungen beziehen.

César Martín erläutert uns anhand eines Modells die Besonderheiten des Neubaus. Alle Wohnungen sind in höhergelegenen Stockwerken eingerichtet, das Haus steht praktisch auf Stelzen, damit bei einem neuen Unwetter das Wasser abfließen kann. In luftiger Höhe sind beide Häuser durch Flure verbunden, die an Brücken erinnern. "Die Leute wollten die Strukturen ihres Barrios nicht verlieren. Deshalb sind die einzelnen Wohnungen besonders hoch gebaut und in etwa so geschnitten, wie es die Menschen aus ihren Hütten, ihren Ranchitos, gewöhnt sind."

Gudelio Crespo vom staatlichen Institut Conavi ist besonders wichtig, daß die Menschen nicht einfach nur in das neue Hochhaus umgesiedelt werden. "Es kommt darauf an, daß wir sie sozial begleiten." Kleine Kooperativen sollen den Bewohnern eigene Einkommensquellen erschließen, die gemeinsame Arbeit in Werkstätten soll der immer noch vorhandenen Gewalt entgegen wirken. Besonders interessiert Crespo die Arbeit mit Jugendlichen: "Viele der heute 18 bis 35-jährigen haben noch nie eine körperliche Arbeit kennengelernt, haben nie gelernt, etwas nützliches herzustellen."

Unterstützung finden die Bewohner von Catuche beim deutschen Jesuiten Klaus Vathroder, der als Leiter des Zentrums für soziale Forschung und Aktion (CIAS) die Gemeinschaft seit Jahren begleitet. Er berichtet auch über die Schwierigkeiten, die das Bauprojekt von Catuche jahrelang in der Ministerbürokratie hatte: "Als der Minister wechselte, wurden die Zahlungen der Regierung für unser Projekt plötzlich eingestellt. Wir mußten vor Gericht die zugesicherten Mittel einklagen, was uns auch gelang. Mittlerweile hat der Minister erneut gewechselt, und jetzt klappt die Zusammenarbeit einigermaßen." Dabei steht man dem politischen Projekt von Präsident Hugo Chávez durchaus positiv, wenn auch mittlerweile ernüchtert, gegenüber. Besonders die Ende 1999 von einer Volksabstimmung verabschiedete Verfassung bewertet Vathroder als "eine der fortschrittlichsten, der besten Verfassungen der Welt". Deshalb kritisiert er auch die "fatale Rolle", mit der sich die Kirchenhierarchie in die Innenpolitik Venezuelas einmischt. "Vor allem das Agieren der Bischöfe während des Putsches im April 2002 hat viele Christen enttäuscht." Dabei zieht sich die Konfrontation zwischen Anhängern der Regierung – den "Chavistas" – und den Oppositionellen auch quer durch die Reihen der Priester und Jesuiten. Vathroder möchte sich da nicht zu sehr festlegen, aber er verteilt Lob an die Alphabetisierungskampagne "Mission Robinson" sowie an das Programm "Barrio Adentro", in dessen Rahmen Hunderte kubanische Ärzte in den armen Barrios Arztpraxen eingerichtet haben und so erstmals Tausenden von Menschen medizinische Betreuung zukommen lassen. Und so bezweifelt Vathroder auch, daß es der Opposition gelingen wird, Präsident Chávez mit einem Referendum abzusetzen. Vor allem: "Die Opposition hat auch keinen Ausweg anzubieten. Der Abgang von Chávez löst keine Probleme, sondern könnte sie vielleicht noch verschärfen."

Artikel vom 1. Oktober 2003