Aufstand in der Festung

Im Mittelmeer sind am Wochenende wieder mehr als ein Dutzend Menschen auf der Flucht vor Krieg und Elend ertrunken. Das meldete die Nachrichtenagentur dpa am Sonntag unter Berufung auf die griechische Küstenwache. Am Sonntag war ein Boot vor der Insel Farmakonisi gekentert, dabei starben mindestens zehn Menschen, darunter ein Kind. Bereits am Vortag waren zwei Schlauchboote vor den Inseln Samos und Lesbos gekentert. Vier Kinder und ein Erwachsener wurden am Sonntag noch vermisst. Es gab keine Hoffnung, sie noch retten zu können.

Aufgeschreckt von den sich täglich wiederholenden Schreckensnachrichten sind am Wochenende in mehr als 70 Städten Europas Zehntausende Menschen auf die Straße gegangen. Die größte Kundgebung fand in London statt, wo sich über 50.000 Menschen im Hydepark versammelten. Einer der Demonstranten, Tahir Zaman, sagte der linken Tageszeitung Morning Star: »Ich bin hier, weil nicht die Migration Menschen tötet, sondern unsere Politiker und unsere Gesetze das tun.« Die derzeitigen Ereignisse seien eine direkte Folge der ab 2003 auch von der britischen Regierung in Nordafrika und im Mittleren Osten angezettelten Kriege. Ein als Paddington Bär verkleidetes Kind trug ein Schild: »Auch Paddington war ein Flüchtling«, eine Anspielung auf die peruanische Heimat der Kinderbuchfigur. Der neue Chef der oppositionellen Labour-Partei, Jeremy Corbyn, kritisierte, dass erst jetzt führende Politiker ihre Menschlichkeit wiederentdeckt hätten. »Sie haben bemerkt, dass sie keine Angst vor der extremen Rechten und den Rassisten haben müssen, denn in unserer Gesellschaft findet jetzt ein Volksaufstand für Anstand und Menschlichkeit statt.«

Einen solchen Aufstand wagten am Sonnabend auch Zehntausende in Hamburg. Allein 14.000 Menschen beteiligten sich nach Angaben der Polizei an einer Demonstration des Hamburger Bündnisses gegen rechts. Weitere 7.500 Menschen kamen auf den Rathausmarkt, wo der Senat zu einer Kundgebung unter dem Motto »Hamburg bekennt Farbe« aufgerufen hatten. Anlass für die Aktionen war ursprünglich ein geplanter Neonaziaufmarsch. Das Verbot dieser Zusammenrottung von Rassisten und Hooligans war am Freitag abend vom Bundesverfassungsgericht bestätigt worden. Trotzdem trafen Dutzende Neofaschisten am Hamburger Hauptbahnhof ein, provozierten Gegendemonstranten und lieferten sich gewaltsame Auseinandersetzungen mit der Polizei. Die nahm mehr als 30 der Provokateure in Gewahrsam. Auch eine Ausweichdemonstration der Rechten in Bremen wurde untersagt. Der Zugverkehr zwischen den beiden Hansestädten wurde zeitweilig eingestellt.

In Madrid demonstrierten Tausende dagegen, dass die Regierungen Europas um die Aufnahme der Flüchtlinge feilschen, als wären diese nur Zahlen. »Wir wollen sie willkommen heißen.« Gefordert wurde eine Öffnung der Grenze und die Schließung der Abschiebelager.

In Kopenhagen gingen nach Polizeiangaben mehr als 30.000 Menschen auf die Straße, um gegen die Migrationspolitik der dänischen Regierung zu protestieren. Das Kabinett hatte in der vergangenen Woche zeitweilig die Grenze zur BRD geschlossen, um Flüchtlinge auf dem Weg nach Schweden nicht durch das Land reisen zu lassen. »Es ist an der Zeit, die Stimme gegen die tödlichen Grenzen zu erheben, die in unserem Namen errichtet wurden«, hieß es als Reaktion darauf in dem Aufruf zu der Demonstration. »Wir wollen unsere Solidarität mit denen zeigen, die vor Krieg, Gewalt und Vertreibung fliehen. Refugees welcome!«

Erschienen am 14. September 2015 in der Tageszeitung junge Welt