Europa mauert

Am 3. Oktober soll in Frankfurt am Main der 25. Jahrestag der »Deutschen Einheit« gefeiert werden. Das offizielle Motto lautet: »Grenzen überwinden«. Das wird wieder nötig, denn die Länder der Europäischen Union ziehen neue Mauern hoch. Nachdem Deutschland am Sonntag abend zunächst an den Grenzen zu Österreich Ausweiskontrollen einführte und für zwölf Stunden den grenzüberschreitenden Zugverkehr in beide Richtungen stoppte, kam es am Montag zu kilometerlangen Staus auf den Autobahnen. Die von Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) angeordnete Aktion traf Tausende Reisende, die pünktlich zum Ferienende die Heimreise angetreten hatten – am heutigen Dienstag beginnt in Bayern wieder der Schulunterricht. Österreich reagierte mit Kontrollen an der Grenze zu Ungarn. Auch die Niederlande schlossen ihre Übergänge zu den Nachbarländern. Tschechien kündigte einen ähnlichen Schritt an.

Die verschärfte Abschottung der EU versetzt Tausende Flüchtlinge in Angst. »Ist die Grenze noch offen?« fragte eine junge Frau auf der serbischen Seite der Grenze am Montag einen Reporter der Nachrichtenagentur AFP. In Ungarn arbeiteten Soldaten an der Fertigstellung des Zauns und wurden dabei von Häftlingen aus einem nahegelegenen Gefängnis unterstützt. Ab heute soll die »illegale« Einreise als Straftat gelten. »Ab Dienstag wird jeder, der den Zaun überwindet, inhaftiert«, zitierte AFP einen Polizisten. Soldaten sind aufgezogen, Militärfahrzeuge patrouillierten entlang der Grenze, und auch für weitere Verstärkung wurde gesorgt. Am Montag morgen verabschiedete Premierminister Viktor Orbán auf dem Budapester Heldenplatz 900 Absolventen der Polizeischule. Wie die Zeitung Pester Lloyd berichtete, rief Orbán die neuen Beamten auf, die »ungarische Heimat gegen aggressive Eindringlinge« zu verteidigen. Im Anschluss wurden sie direkt an die Grenze zu Serbien geschickt.

Auch Hunderte Kilometer weiter südlich ist die Lage dramatisch. Rund 500 Syrer versuchten am Montag morgen, den Grenzübergang zwischen Marokko und der spanischen Enklave Melilla zu passieren. Zum wiederholten Mal wurden sie jedoch von den nordafrikanischen Sicherheitskräften abgewiesen, die die Verbindung zum spanischen Staatsgebiet für Stunden komplett sperrten. Seit Tagen haben die marokkanischen Soldaten die Arbeit der spanischen Grenzschützer übernommen. Während sich Ministerpräsident Mariano Rajoy gegenüber der EU medienwirksam zur Aufnahme von 15.000 Menschen bereit erklärt hat, verhindern meterhohe Zäune, Stacheldraht, Militär und Spürhunde, dass Syrer und andere Flüchtlinge spanisches Gebiet erreichen. Die Sperranlagen um Ceuta und Melilla, Madrids Kolonien in Nordafrika, wurden in den vergangenen Jahren mit Millionen Euro aus EU-Hilfen immer weiter ausgebaut.

So bleibt den Menschen weiter nur die gefährliche Flucht über das Mittelmeer. Die Zahl der Menschen, die beim Untergang eines Segelschiffs am Sonntag ertrunken sind, stieg nach Informationen der griechischen Nachrichtenagentur ANA-MPA am Montag auf 34. Doch Brüssel setzt weiter auf Abschottung. Am Montag beschlossen die Mitgliedsstaaten der EU den Eintritt in die zweite Phase des Militäreinsatzes zur Jagd auf »Schleuser« im Mittelmeer. Damit soll es den beteiligten Ländern, unter ihnen die BRD, erlaubt werden, Jagd auf »Schleuserboote« zu machen und diese zu zerstören. Eingesetzt werden sollen sieben Kriegsschiffe, ein Flugzeugträger als Befehlszentrale, U-Boote, Drohnen, Hubschrauber und Flugzeuge. Die Rettung der Fliehenden ist nur Nebensache.

Erschienen am 15. September 2015 in der Tageszeitung junge Welt