Auf den Weg gemacht

In den deutschen Medien nahm man die Nachricht damals mit einem Schulterzucken auf: In Venezuela ist der Führer eines gescheiterten Staatsstreichs zum neuen Präsidenten gewählt worden. Na ja, die Latinos halt. Mit dem Namen Hugo Chávez konnte damals im Dezember 1998 kaum jemand etwas anfangen. Nur Spezialisten erinnerten sich an die unruhigen Monate, die Venezuela im Jahr 1992 durchlebt hatte, als innerhalb von zehn Monaten zwei Putschversuche aus dem Militär gescheitert waren. So etwas gab es auf dem Kontinent doch fast täglich…

 

Lediglich die Tageszeitung „junge Welt“ tanzte schon damals aus der Reihe und verglich Hugo Chávez mit Salvador Allende: „Nach Chile ist es das zweite Mal in Lateinamerika, dass eine linke und patriotische Allianz an die Regierung kommt“, schrieb das Blatt am 8. Dezember 1998. Der Autor dieser Zeilen: Carolus Wimmer, internationaler Sekretär der Kommunistischen Partei Venezuelas (PCV), die Chávez im Wahlkampf unterstützt hatte.

56,2 Prozent der Wähler stimmten am 6. Dezember 1998 für den Kandidaten Hugo Chávez Frías, dessen neugegründete Partei „Bewegung Fünfte Republik“ ein heterogenes Bündnis anführte, das von ganz rechts bis ganz links reichte. Die Unterstützer des „Comandante“ einte die Überzeugung, dass die seit Jahrzehnten bestehende Zweiparteienherrschaft von Sozialdemokraten und Christsozialen überwunden werden musste. Die „Demokratische Aktion“ (AD) und die COPEI hatten sich seit 1958 durchgehend an der Macht abgelöst und diese faktische Diktatur durch ein Abkommen, den „Pakt von Punto Fijo“, abgesichert. Venezuela ging derweil vor die Hunde. 1998 lebte offiziellen Angaben zufolge fast jeder zweite Haushalt in Armut, die extreme Armut wurde in den staatlichen Statistiken mit über 17 Prozent angegeben. Und das, obwohl Venezuela ein rohstoffreiches Land ist und auch damals schon zu den größten Erdölexporteuren der Welt gehörte. Doch die Gewinne des staatlichen Ölkonzerns PDVSA flossen nicht in die Entwicklung des Landes, sondern in die Taschen der Manager und der Günstlinge der Regierung.

Dagegen lehnte sich die Bevölkerung auf. Schon am 27. Februar 1989 war es in Caracas und anderen Städten zu einer sozialen Explosion gekommen, als Tausende gegen Fahrpreiserhöhungen demonstrierten. Diese waren das Ergebnis eines Kürzungspakets gewesen, die der gerade an die Regierung gewählte Sozialdemokrat Carlos Andrés Pérez auf Geheiß des Internationalen Währungsfonds (IWF) dem Land übergeholfen hatte. Die Proteste wurden brutal niedergeschlagen, Menschenrechtsgruppen gingen von mehreren tausend Toten aus. Im Militär gärte die  Unzufriedenheit mit der Rolle als Unterdrücker und Mörder des eigenen Volkes. Schon Jahre zuvor hatte sich eine kleine Gruppe junger Offiziere insgeheim zusammengefunden und diskutiert. Nach der Erfahrung des „Caracazo“ von 1989 fassten sie den Entschluss, dem Regime mit Waffengewalt ein Ende zu setzen. Am 4. Februar 1992 erhoben sich Einheiten der Streitkräfte in der Hauptstadt und in anderen Teilen des Landes und versuchten, die Regierung zu stürzen.

Der Coup scheiterte, die überlebenden „Putschisten“ wurden ins Gefängnis gesteckt. Doch sie wurden durch ihren Aufstand zu Helden des einfachen Volkes. Insbesondere der Comandante der Aufständischen, Hugo Chávez, wurde durch eine kurze, legendär gewordene Fernsehansprache zur Identifikationsfigur für Tausende. Die Volksreligiosität der Venezolaner ging soweit, dass manche begannen, ihn als den „Messias“ zu verehren, der gekommen war, sie aus dem Elend zu erlösen. Sogar ein umgedichtetes „Vaterunser“ mit den Anfangszeilen „Chávez unser, der du bist im Gefängnis …“ fand den Weg in die Zellen der Rebellen.

Das politische Establishment war sich in der Verdammung der Aufständischen einig, sogar die Wiedereinführung der Todesstrafe wurde diskutiert. Zu den wenigen, die öffentlich ihre Stimme erhoben, gehörte der alte Politveteran Rafael Caldera, der das Land schon 1969 bis 1973 regiert hatte. Er kritisierte, man könne nicht von Menschen, die sich um ihr tägliches Brot sorgen müssten, verlangen, dass sie die Demokratie verteidigen. Diese Haltung half ihm, 1993 zum Präsidenten Venezuelas gewählt zu werden. Unterstützt wurde er aufgrund seiner progressiven Versprechungen unter anderem von der Kommunistischen Partei, doch wie so oft blieb von den linken Parolen nach dem Wahltag wenig  übrig. In die Geschichte eingegangen ist nur eine Leistung Calderas: er begnadigte die „Putschisten“, so dass Hugo Chávez im März 1994 wieder auf freien Fuß kam. Voraussetzung dafür war sein Ausscheiden aus dem Militär, was er widerwillig akzeptierte. Doch die erzwungene Zivilität machte den Weg frei für den Aufbau einer legalen Wahlpartei, die aus der illegalen „Revolutionären Bolivarischen Bewegung“ (MBR-200) hervorging. Chávez formte um seine neue MVR den „Patriotischen Pol“ und versprach, Venezuela durch die Einberufung einer verfassunggebenden Versammlung „neu zu gründen“.

Am 2. Februar 1999 übergab Rafael Caldera die Präsidentenschärpe an Hugo Chávez, und dieser legte seinen Amtseid auf die „dem Untergang geweihte Verfassung“ ab. In seiner ersten Amtshandlung berief er ein Referendum ein, damit die Venezolaner entscheiden sollten, ob sie der Einberufung einer verfassunggebenden Versammlung zustimmen oder nicht. Das waren die ersten Schritte einer „Bolivarischen Revolution“, die am 6. Dezember 2013 ihren 15. Geburtstag feiern kann. Ihr Begründer kann dieses Jubiläum nicht mehr erleben, Hugo Chávez erlag am 5. März 2013 einer Krebserkrankung. Am 14. April wurde sein langjähriger Außenminister Nicolás Maduro zum neuen Präsidenten der Bolivarischen Republik Venezuela gewählt, wie das Land seit der Annahme der neuen Verfassung im Dezember 2000 offiziell heißt.

Wohin sich dieser Prozess entwickeln wird, ist bis heute offen. Er ist aber weiter gegangen, als 1998 absehbar gewesen wäre. Hatte sich Hugo Chávez 1998 noch für einen „dritten Weg“ ausgesprochen und sich politisch nahe bei Bill Clinton und Tony Blair positioniert, erkannte er sehr schnell, dass kosmetische Veränderungen in Venezuela nicht ausreichten. Er erkannte, dass eine tatsächliche Umwandlung des Landes bedeutete, sich dem Imperialismus entgegenzustellen. Hatte er sich am Anfang noch als dem Kommunismus gegenüber indifferent gezeigt („Ich bin weder Kommunist noch Antikommunist“), bekannte er sich ab Anfang 2005 ausdrücklich zum Sozialismus, zu einem „neuen Sozialismus des 21. Jahrhunderts“.

Was das genau sein sollte, blieb ungenau formuliert, doch Hugo Chávez war der erste Staatschef, der nach 1989/90 den Sozialismus als Entwicklungsziel seines Landes ausgab. Das war, ist und bleibt sein historischer Verdienst. 2010 bekannte er sich vor der Nationalversammlung zudem auch ausdrücklich zum Marxismus, er sei nicht nur Revolutionär
und Christ, sondern auch Marxist.

Venezuela ist unter Hugo Chávez zwar kein sozialistisches Land geworden, doch es ist für Millionen Menschen die Hoffnung, dass eine andere Welt tatsächlich möglich ist. Untrennbar mit dem Namen Hugo Chávez (und mit dem von Fidel Castro) verbunden ist die Gründung des antiimperialistischen Staatenbundes ALBA 2004, dem heute neben Venezuela und Kuba auch Bolivien, Nicaragua, Ecuador, Antigua und Barbuda, Dominica, St. Lucia sowie St. Vincent und die Grenadinen angehören. Hugo Chávez war der Vater der Union Südamerikanischer Nationen (UNASUR) und der Lateinamerikanischen und Karibischen Staatengemeinschaft (CELAC). Seine Bolivarische Revolution überwand den Analphabetismus in Venezuela und sorgte mit der Unterstützung Kubas dafür, dass die Venezolaner Zugang zu kostenfreier Gesundheitsversorgung haben. Es ist die große Aufgabe seines Nachfolgers Nicolás Maduro, diesen Weg konsequent weiterzugehen – damit der bolivarische Prozess tatsächlich zu einer sozialistischen Revolution werden kann.

Im August 2005 war Hugo Chávez Gastgeber der 16. Weltfestspiele der Jugend und Studierenden in Caracas. Und so ist es keine Überraschung, dass das am vergangenen Wochenende in Quito begonnene 18. Festival auch dem Andenken an Hugo Chávez gewidmet ist. Wir schließen uns an.

Erschienen am 13. Dezember 2013 in der Wochenzeitung UZ – Unsere Zeit