Allendes letzte Rede

Es ist der Morgen des 11. September 1973. In Chile putscht das Militär gegen die gewählte Regierung. Präsident Salvador Allende hat sich bereits mehrfach über die Rundfunksender der hinter ihm stehenden Parteien an die Bevölkerung gewandt, zum ersten Mal um 7.55 Uhr morgens, als die ersten Nachrichten über eine Rebellion der Marine in Valparaíso eingetroffen sind. Eine Stunde später ist klar, dass die Mehrheit der Streitkräfte hinter dem Staatsstreich steht. Die Luftwaffe fliegt Angriffe auf die Sendeanlagen regierungsnaher Programme, Radio Portales und Radio Corporación sind schon zum Schweigen gebracht worden, ebenso die Sender der Universitäten und der Gewerkschaften. Auch der staatliche Fernsehsender Televisión Nacional ist abgeschaltet. Nur Radio Magallanes, Sender der KP Chiles, kann noch gehört werden.

Die Redaktionsräume liegen an der Straße Estado Nummer 235 im sechsten Stock. Direktor Guillermo Ravest ist früh um sechs Uhr vom diensthabenden Ingenieur geweckt worden: »Jetzt hat der Putsch wirklich begonnen.« Auf dem Weg zum Sender muss er Militärsperren passieren, so dass er erst kurz vor acht die Studios erreicht. Dort herrscht Hochbetrieb. Die Redakteure sind entschlossen, ihre Aufgabe zu erfüllen, obwohl die Putschisten mit Angriffen »zu Lande und aus der Luft« drohen.

Ravest schickt ein Team zu den Sendeanlagen. Sie sollen den Betrieb so lange wie möglich aufrechterhalten – sollten die Militärs die Studios besetzen, könnten sie von dort aus das Programm fortsetzen. Plötzlich klingelt das Telefon, das per Direktleitung mit dem nur wenige Straßen entfernten Präsidentenpalast La Moneda verbunden ist. Allende ist am Apparat: »Ihr müsst mich sofort auf Sendung nehmen, Genosse!«

Ravest ruft einem Kollegen zu, sofort ein Band einzulegen und die Aufzeichnung zu starten. Ein Sprecher, Leonardo Cáceres, sprintet an das Mikrofon, um den Präsidenten anzusagen. Dann folgt dessen letzte Ansprache: »Ich werde nicht zurücktreten. In eine historische Situation gestellt, werde ich meine Loyalität gegenüber dem Volk mit meinem Leben bezahlen. (…) Sie haben die Gewalt, sie können zur Sklaverei zurückkehren. Aber man kann weder durch Verbrechen noch durch Gewalt die gesellschaftlichen Prozesse aufhalten. Die Geschichte gehört uns, es sind die Völker, die sie machen.« Im Hintergrund sind Schüsse zu hören und das Dröhnen von Flugzeugen, die die Moneda überfliegen.

Als die Verbindung unterbrochen ist, sagt Cáceres: »Das war sein politisches Testament.« Über Radio Magallanes läuft die Hymne der Unidad Popular, »El Pueblo Unido Jamás Será Vencido« – das vereinte Volk wird niemals besiegt werden. Um 10.20 Uhr bricht das Signal ab, offenbar haben die Putschisten die Sendeanlage besetzt.

Die meisten der in der Redaktion Verbliebenen werden nach Hause geschickt, mit Beginn um 14 Uhr haben die Militärs eine Ausgangssperre verhängt. Ravest bleibt mit Amado Felipe, dem Chef der KP-Gruppe im Radio, zurück, um Dokumente zu vernichten. Auch die beiden Genossen, die von der Partei zu ihrer Sicherheit abgestellt worden sind, harren aus.

Zwei Tage bleiben sie ungestört. Sie nutzen die Zeit, um die Aufnahme von Allendes letzter Rede immer wieder zu kopieren. Als am 13. September die Ausgangssperre aufgehoben wird, verlassen sie die Studios. Ravest hat die wertvollen Aufnahmen bei sich. Zehn Kopien gehen der Kommunistischen Partei zu, die anderen werden an ausländische Korrespondenten weitergegeben. Drei Monate später findet Ravest Zuflucht in einer Außenstelle der westdeutschen Botschaft. Vor ihm und seiner Familie liegen zehn Jahre Exil.

Radio Magallanes schweigt, doch nicht für lange. Schon kurze Zeit nach dem Putsch heißt es: »Hier ist Magallanes, die Stimme, die der Faschismus nicht zum Schweigen bringen kann.« Das Signal kommt auf Kurzwelle aus der Sowjetunion, Radio Moskau stellt die Technik – bis zum Ende der Diktatur. Heute kann die Kommunistische Partei Chiles wieder legal senden, Radio Nuevo Mundo ist auf UKW, Mittelwelle und im Internet zu empfangen.

Erschienen am 12. September 2019 in der Tageszeitung junge Welt