Piratensender als Zeitzeuge

Zeugen waren unerwünscht, als 10.000 Beamte von Polizei und Bundesgrenzschutz am 4. Juni 1980 die »Republik Freies Wendland« räumten. Ziemlich genau einen Monat zuvor hatten Tausende Atomkraftgegner auf dem Gelände bei Gorleben im Nordosten Niedersachsens ein Hüttendorf errichtet, um gegen den dort geplanten Bau eines Endlagers für Atommüll zu protestieren. Die »Freie Republik« war eine Kampfansage an die herrschende Ordnung der westdeutschen Bundesrepublik. Man grenzte sich ab, und das mit allen Hoheitszeichen, die ein unabhängiger Staat brauchte: Ein Schlagbaum markierte die Grenze, Pässe wurden ausgegeben, eine eigene Fahne gehisst. Es entstanden Gemeinschaftshäuser, Unterkünfte, eine Kirche, ein Friseursalon, eine Sauna. Und natürlich besaß die Republik am Bohrloch 1004 auch einen eigenen Rundfunksender, Radio Freies Wendland. Durch ein Windrad mit Energie versorgt, berichtete man auf UKW 101,0 MHz über die Entwicklungen, sendete Musik und übertrug Diskussionen.

In den etablierten Medien herrschte die Sichtweise der Regierenden vor, und die sah in den Umweltschützern nur Terroristen und Radikalinskis. Von »Hochverrat« sprach Niedersachsens damaliger Innenminister Egbert Möcklinghoff (CDU) den Journalisten in die Mikrofone. Trotzdem war auch der NDR nicht wohlgelitten, als sich die Staatsmacht zum Angriff auf das Hüttendorf anschickte. Der Reporter, der live im Radio berichten sollte, wurde des Platzes verwiesen. »Anweisung von oben«, teilt ihm die Polizei mit.

Viele waren trotzdem per Radio dabei. Neun Stunden lang übertrug Radio Freies Wendland das Vorrücken der Uniformierten, während sich die Besetzer wegtragen ließen. Auf UKW hört der ganze Landkreis: »Die Leute, die abgeräumt werden, machen gar nichts und werden trotzdem zusammengetreten. (…) Es ist ein Wunder, dass sich der Rest noch an die Abmachung hält und nicht zurückschlägt, keinen Widerstand leistet.«

Während die Polizei immer näher auf das Zentrum des Hüttendorfs rückte, rissen Bulldozer schon die Hütten ein. Es wurde keine Rücksicht darauf genommen, ob sich noch Menschen in den Holzgebäuden befanden, und viele Beteiligte sehen es heute als reines Glück, dass damals niemand ums Leben kam. Kurz vor Ende der Polizeiaktion kündigte ein Sprecher auf Radio Freies Wendland an, man müsse jetzt das Mikrofon vergraben und die Sendung abbrechen: »Der Kampf geht weiter!«

Radio Freies Wendland überlebte das Ende der Freien Republik. Regelmäßig jeden Sonnabend meldete man sich in den folgenden Monaten und Jahren mit kurzen Sendungen aus dem Untergrund, gejagt von den Peilwagen der Post und der Polizei. Wenn ein Sender entdeckt wurde, kam kurz darauf ein neuer zum Einsatz. Und auch während der Atommülltransporte der 1990er und 2000er Jahre meldete er sich – inzwischen ganz legal über den lokalen Bürgerfunk Radio Zusa und per Livestream im Internet über Indymedia. Der Originalsender kann heute im Deutschen Technikmuseum in Berlin betrachtet werden.

Erschienen am 4. Juni 2020 in der Tageszeitung junge Welt