junge Welt, 17. März 2011

GAU mit Ansage

junge Welt, 17. März 2011Die Atomkatastrophe in Japan war offenbar vorhersehbar. Das japanische Außenministerium veröffentlichte bereits Mitte 2008 einen Bericht der »Gruppe für Nukleare Sicherheit und Sicherung« (NSSG), einer Einrichtung der G8. Das asiatische Land hatte zu diesem Zeitpunkt den Vorsitz der Gruppe der acht führenden Wirtschaftsmächte inne und richtete deren Gipfeltreffen im Juli 2008 in Tyako aus. In dem Papier der NSSG wird darauf hingewiesen, daß ein Erdbeben der Stärke 6,6 im Juli 2007 das Atomkraftwerk Kashiwazaki Kariwa stark beschädigte und dieses abgeschaltet werden mußte. Dieses Ereignis unterstreiche »die Bedeutung einer internationalen Antwort auf Risiken, die Erdbeben für Kernkraftwerke weltweit bedeuten«, heißt es in dem Dokument.

Bei den Diskussionen, die der Veröffentlichung dieses Berichts vorausgingen, wurden die Experten offenbar noch deutlicher. Das geht aus einer Depesche hervor, die dem Daily Telegraph vom Internetdienst Wiki­leaks zugespielt wurde. In dem Papier vom Dezember 2008, das die britische Zeitung am Mittwoch veröffentlichte, zitieren Diplomaten der US-Botschaft in Tokio Vertreter der Internationalen Atom­energiebehörde (IAEA). Diese hätten bei einer Besprechung mit G8 und NSSG darauf hingewiesen, daß die japanischen Richtlinien für Erdbebensicherheit in den vergangenen 35 Jahren nur dreimal überprüft worden seien. Die Bebenstärke, für die Japans Reaktoren ausgelegt wurden, sei bereits in der Vergangenheit mehrfach übertroffen worden. »Das ist ein ernstes Problem«, so die Experten damals.

Die japanische Regierung versucht jetzt, die Menschen im In- und Ausland zu beruhigen. Kabinettssprecher Yukio Edano sagte am Mittwoch in Tokio, der innere Reaktormantel von Block 3 im Atomkraftwerk Fukushima eins sei »wahrscheinlich nicht ernsthaft beschädigt« und widersprach damit seinen eigenen Äußerungen, die er wenige Stunden zuvor gemacht hatte. Die 20 Kilometer vom Reaktor gemessene Radioaktivität bedeute »keine unmittelbare Gefahr«. Das Außenministerium rief das Ausland außerdem zur Ruhe auf, nachdem mehrere Regierungen Reisewarnungen ausgesprochen oder die Schließung ihrer diplomatischen Vertretungen in Tokio angekündigt hatten.

Nach der Atomkatastrophe stellen weltweit immer mehr Regierungen ihre jeweiligen Atomprogramme auf den Prüfstand. China kündigte am Mittwoch an, bis auf weiteres keine neuen Baugenehmigungen für Reaktoren zu erteilen und die Vorbereitungen für die Errichtung bereits genehmigter Kraftwerke auf Eis zu legen. Ob auch der bereits begonnene Bau von 26 Reaktoren gestoppt wird, blieb zunächst offen. Frankreichs Staatschef Nicolas Sarkozy und der russische Ministerpräsident Wladimir Putin bekräftigten hingegen, an der Atomkraft festhalten zu wollen. Putin sagte bei einem Besuch in Minsk, Kernenergie sei die »einzig starke Alternative« zu Öl und Gas, alles andere seien »Spielereien«. In Schweden beantragte der Atomkonzern SKB am Mittwoch die Genehmigung für den Bau eines Endlagers für Atommüll in der Nähe des AKW Forsmark. Der in Kupferkapseln eingeschlossene hochradioaktive Abfall soll für 100000 Jahre in einem Berg gelagert werden. Die schwedische Regierung hatte den nach einer Volksabstimmung 1980 erfolgten Atomausstieg des skandinavischen Landes Anfang 2009 wieder aufgehoben und den Neubau von zehn Reaktoren genehmigt.

Erschienen am 17. März 2011 in der Tageszeitung junge Welt