Die Neudefinition der Nationalen Sicherheit – Zur Nationalen Sicherheitsstrategie der USA

Universität Hamburg
Institut für Politische Wissenschaft

Wintersemester 2003/2004
Hauptseminar: Hegemonie oder multilaterale Kooperation? Die Außenpolitik der USA
Dozent: Prof. Dr. Cord Jakobeit

Die Neudefinition der Nationalen Sicherheit
Zur Nationalen Sicherheitsstrategie der USA

Inhalt

    * 1. Einleitung
    * 2. Die Nationale Sicherheitsstrategie nach theoretischen Zugängen:
    * 1.1. Realismus / Neorealismus
    * 1.2. Liberalismus / Institutionalismus
    * 1.3. Marxismus / Neomarxismus
    * 3. Das Präventiv-/Präemptivkonzept
    * 3.1. Begriffsklärung: Präventiv oder Präemptiv?
    * 3.2. Präventivstrategie und Völkerrecht
    * 4. Fußnoten

1. Einleitung

Die „Nationale Sicherheitsstrategie der Vereinigten Staaten von Amerika“ (NSS – The National Security Strategy of the United States of America) wurde im September 2002 veröffentlicht. In dem maßgeblich von der Beraterin des US-Präsidenten Bush, Condolezza Rice, erarbeiteten Dokument sind die Grundzüge der sicherheits- und verteidigungspolitischen Strategie der USA festgelegt.

In einem Aufsatz für die Zeitschrift „Foreign Affairs“ unterstreicht US-Außenminister Colin L. Powell die Bedeutung der NSS für die Strategie der US-Administration unter Präsident Bush: „Präsident George W. Bush hat eine Vision von einer besseren Welt. Und er hat auch eine Strategie, diese Vision in Realität zu übersetzen. (…) Die Strategie des Präsidenten wurde erstmals im September 2002 in der Nationalen Sicherheitsstrategie der Vereinigten Staaten niedergeschrieben.“ Er räumt zugleich aber ein, daß dieses Dokument „natürlich nicht völlig offen über alle Entscheidungen sein kann, die von den US-Führern getroffen werden; wir tun uns selbst und unseren Verbündeten keinen Gefallen, wenn wir unseren Gegnern alles erzählen, was wir denken und planen.“

Die grundlegende Bedeutung der NSS wird auch von Joachim Krause, Jan Irienkaeuser und Benjamin Schreer geteilt, die sich in einem Aufsatz für die Zeitschrift „Aus Politik und Zeitgeschichte“ mit der Kritik an dem US-Dokument auseinandersetzen. In der Einleitung ihres Artikels schreiben die Autoren:

„Das von Präsident Bush jr. vorgelegte Strategiepapier ist das erste dieser Administration. (…) Die NSS formuliert die grundlegenden Ziele der amerikanischen Außen- und Sicherheitspolitik sowie die Mittel zu ihrer Umsetzung. Sie hat damit richtungweisenden Charakter für die Politik auf allen internationalen Feldern. Der Bogen spannt sich von traditioneller Militärpolitik bis hin zu neuen Formen der Diplomatie und Entwicklungshilfe. NSS ist somit – entgegen der gängigen Meinung – keine ‚Bush-Doktrin‘ des präemptiven Erstschlags.“

Ich werde in dieser Arbeit die Nationale Sicherheitsstrategie zunächst unter verschiedenen politikwissenschaftlichen Ansätzen untersuchen. Anschließend konzentriere ich mich auf den Aspekt der präventiven / präemptiven Strategie dieses Dokuments und beleuchte insbesondere deren völkerrechtliche Aspekte.

2. Die Nationale Sicherheitsstrategie nach theoretischen Zugängen


1. Realismus / Neorealismus

Unter Realismus verstehen wir eine Sichtweise auf das System der Internationalen Politik, die bestimmt ist von der Analyse des Machtkampfes zwischen den verschiedenen Akteuren. Im klassischen Realismus wird internationale Politik als „Kampf der Staaten um die Macht und damit Machtpolitik“ verstanden. Internationale Politik habe deshalb vor allem zwischenstaatliches Handeln zum Gegenstand. Nach Hans J. Morgenthau (1904-1980) unterscheiden sich die Staaten als Akteure der Internationalen Politik durch ihr als Macht verstandenes Interesse, im Gegensatz beispielsweise zur Wirtschaft, deren internationale Beziehungen durch ein als Reichtum verstandenes Interesse bestimmt werden. Internationale Politik ist demnach ausschließlich durch Macht geprägt, zwischenstaatliche Beziehungen, die sich der Macht nicht bedienen, werden in diesem Sinne nicht als politisch verstanden.

Ausgehend von der heute als problematisch empfundenen Beschränkung der Akteure der Internationalen Politik auf die Staaten erweitert der Neorealismus diesen Blickwinkel auf weitere Akteure. „Nachdem das Internationale System nicht nur durch Sicherheits-, sondern auch durch ökonomische Konflikte geprägt ist, ergänzen die Neorealisten die traditionellen Staatenbeziehungen um transnationale Beziehungen, d.h. Beziehungen, an denen mindestens ein nichtstaatlicher Akteur, z.B. ein multinationaler Konzern, beteiligt ist. Internationale Konzerne sind als Akteure der internationalen Politik allerdings von staatlichen Vorgaben abhängig. Sie können aus neorealistischer Sicht nicht gegen die Ziele der eigenen Regierung oder die des Gastlandes international aktiv werden.“

Die Neorealisten erkennen auch die wachsende Verflechtung im Internationalen System an, wodurch wichtige Aufgaben wie die Bewältigung der globalen Umweltprobleme nur in Kooperation mit anderen Akteuren (Staaten) gelöst werden können. „Diese Kooperation findet vorwiegend im Bereich der ‚Low Politics‘ statt, ein Übertragungseffekt (spill-over) auf die ‚High Politics‘, die Sicherheitspolitik, findet nicht statt. Durch die Kooperation in aus neorealistischer Sicht weniger wichtigen, d.h. nicht sicherheitsrelevanten Politikfeldern, wird der Gegensatz zwischen souveränen Staaten also nicht aufgehoben, da er im wichtigen Politikbereich der Sicherheit bestehen bleibt.“

Mit Kenneth N. Waltz gehen die Neorealisten davon aus, daß eine Machtverteilung zwischen Großmächten („Balance of power“) weniger risikoreich ist als andere Machtstrukturen wie Unipolarität oder Multipolarität, da eine solche Machtverteilung den Status quo aufrecht erhalten und damit die näheren Entwicklungsperspektiven der Internationalen Politik berechenbarer machen kann. Auch eine vereinfachte Kosten-Nutzen-Relation wird sich von einer solchen Machtverteilung versprochen.

Wenn wir vor dem Hintergrund dieser realistischen bzw. neorealistischen Prämissen die Nationale Sicherheitsstrategie lesen, werden wir schnell auf Formulierungen und Denkmuster stoßen, die an die Theorie der Realisten und mehr noch der Neorealisten erinnern.

Trotz des Ausgangspunktes neuer Gefahren für die nationale Sicherheit durch den internationalen Terrorismus und des Hinweises auf terroristische Netzwerke („shadowy networks of individuals“) sind die handelnden Akteure, auf die in der NSS Bezug genommen wird, fast ausschließlich Staaten und Staatengemeinschaften. Insbesondere hinsichtlich der Gefahren für den internationalen Frieden und die Sicherheit liegt der Fokus der Aufmerksamkeit in der NSS auf den Staaten, während in anderen Zusammenhängen, insbesondere bei den im Abschnitt VII. („Expand the Circle of Development by Opening Societies and Building the Infrastructure of Democracy“) festgelegten Zielen der US-amerikanischen Außen- und Entwicklungspolitik, nicht- und überstaatliche Akteure durchaus Relevanz zugeschrieben wird. Wir erkennen hier die neorealistische Unterscheidung zwischen den „Low“ und „High Politics“, wobei die „High Politics“ die Sicherheitspolitik umfaßt und den Staaten als Akteuren vorbehalten bleibt.

Auch wenn es im Abschnitt III. heißt, der Feind sei „nicht ein einzelnes politisches Regime oder eine einzelne Person oder Religion oder Ideologie“ sondern der Terrorismus, fokussiert die NSS auf die hinter den terroristischen Netzwerken stehenden und sie beherbergenden „Schurkenstaaten“ („rogue states“). Die Gruppe der „Schurkenstaaten“ stellt nach wie vor eine der zentralen Kategorien US-amerikanischer Außenpolitik dar, ergänzt durch flankierende Begriffe wie „Achse des Bösen“.

Eine Definition des Begriffs „Schurkenstaat“ / „rogue state“ suchen wir in der NSS jedoch vergeblich. Auch in anderen Dokumenten der US-Administration wird keine allgemeinverbindliche Definition dieses eher agitatorisch-propagandistisch entstandenen Begriffs gegeben. Wir können aber als Definition auf einen Aufsatz von Prof. Barry Rubin vom israelischen Global Research in International Affairs Center (GLORIA) in der Zeitschrift „Internationale Politik“ zurückgreifen:

„Es ist praktisch unvermeidbar, daß ein Staat, den man als Schurkenstaat bezeichnet, eine repressive Diktatur hat. Diese Regierungsform allein ist jedoch nicht ausreichend für eine solche Klassifizierung. Noch wichtiger ist, daß dieses Regime als nach außen hin aggressiv angesehen wird. Ebenso ist ein Schurkenstaat nicht nur ein Land, dessen Interessen denen der Vereinigten Staaten zuwiderlaufen, sondern eines, das auch die internationale Ordnung gefährdet. Ein solcher Staat droht, die USA in einen Konflikt zu ziehen, auch wenn Amerika dies vermeiden will. Da das Regime nicht auf herkömmliche diplomatische Maßnahmen reagiert und beispielsweise Signale fehlinterpretiert oder es ablehnt, systematisches Unterminieren und Terrorismus zu unterlassen, versagen vertrauensbildende Maßnahmen oder Methoden der Konfliktprävention. Andere, härtere Maßnahmen und Haltungen werden notwendig. Diese müssen nicht zwingend Krieg bedeuten, es sei denn, der Schurkenstaat unternimmt besondere Schritte, die ein solches Vorgehen unvermeidbar machen. Die Vereinigten Staaten ziehen es vor, solche Regime durch Nichtanerkennung und Sanktionen zu isolieren und internationale Bündnisse zu schließen, um ihrer Aggression oder Expansion Einhalt zu gebieten.“

Philip Zelikow versucht in seinem Aufsatz „The Transformation of National Security“ den neorealistischen Eindruck der NSS zu zerstreuen. Zelikow arbeitete selbst inoffiziell an der Entstehung der NSS mit und gilt als Vertrauter der nationalen Sicherheitsberaterin der US-Administration, Condoleezza Rice, wovon u.a. gemeinsame Buchveröffentlichungen zeugen. Außerdem ist er als Executive Director der „9/11 Commission“ eng mit der US-Sicherheitspolitik verbunden.

Philip Zelikow geht in seinem Aufsatz von der vorherrschenden negativen Meinung über realistische Konzeptionen im Gegensatz zu idealistischen Ansätzen aus und bemüht sich deshalb zunächst, den Gegensatz zwischen realistischen und idealistischen Theorien aufzulösen:

„Realism was usually identified as a cold-eyed focus on calculations of power. Idealism embraced a pre-eminent concern for human rights, global poverty or other facets of human welfare. (…) But those stereotypes overly simple to begin with, no longer even remotely suite our times. They do not capture the nature of the controversies within the present administration, nor do they comprehend the new fusion of power and principle that is now guiding U.S. policy.“

Entscheidend ist für diese Sichtweise des mehrfache Rekurrieren auf als allgemeingültig erachtete Werte, deren Durchsetzung sich die NSS zum Ziel gesetzt habe. Zelikow unterstreicht:

„The administration drives power and principle together around a remarkably straightforward statement of the ‚non-negotiable demands of human dignity.‘ Seven of these demands (…) are listed in the strategy document: the rule of law; limits on the power of the state; respect for women; private property; free speech; equal justice; and religious tolerance.“

Trotzdem bleibt das Dokument in seinen wesentlichen Bestandteilen dem Argumentationsmuster des Neorealismus verhaftet, auch wenn nicht- oder überstaatliche Akteure in der NSS einen größeren Stellenwert erhalten, als es in früheren Positionspapieren der Fall gewesen sein mag.

Tatsächlich rücken in der NSS „asymmetrische Bedrohungen“ stärker in das Blickfeld. Zelikow nennt dies „die neue Geographie der Nationalen Sicherheit“:

„In the past, the geography of national security was defined by foreign frontiers. Dangerous enemies had to possess mass and scale as they first accumulated armies, navies or air forces and then deployed them. Today the frontiers of national security can be everywhere. The point is so obvious in the case of mass-casualty terrorism that it needs no elaboration.“

Es sei an dieser Stelle daran erinnert, daß es ja gerade eine der Neuerungen des Neorealismus gegenüber dem klassischen Realismus war, auch nicht-staatliche Akteure im Internationalen System zu berücksichtigen. Trotzdem bleibt die Suche nach einem Machtgleichgewicht, nach einer „balance of power“ zwischen den verschiedenen Akteuren ein zentraler Begriff des (Neo-)Realismus. Genau dieser Begriff hat aber auch einen zentralen Stellenwert in der NSS wie auch in der Argumentation von Zelikow. Dies zeigt sich außerdem dadurch, daß er bereits in der Einleitung zur NSS durch Präsident Bush eingeführt wird:

„In building a balance of power that favors freedom, the United States is guided by the conviction that all nations have important responsibilities. Nations that enjoy freedom must actively fight terror.“

Zelikow erläutert dieses Konzept:

„The administration’s concept of a ‚balance of power that favors freedom‘ – to note the marquee concept of the National Security Strategy – applies calculations of power to the worldwide capacity to support beneficial pinciples affecting both relations among states and conditions within them. The administration thus emphasizes both power and a readiness to distinguish good from bad, right from wrong.“

Wir sehen auch an dieser Stelle die übergeordnete Bedeutung, die in der NSS den Staaten – hier als „nations“ bezeichnet – zugeschrieben wird, auch in der Auseinandersetzung mit nicht-staatlichen Herausforderungen, wie es in diesem Falle der Terrorismus darstellt.

2. Liberalismus / Institutionalismus

Den Gegenpol zum Realismus und Neorealismus stellen in der heutigen wissenschaftlichen Debatte vor allem der Liberalismus und der (Neo-) Institutionalismus dar.

Der (Neo-)Institutionalismus basiert auf der Annahme, daß als Akteure in der internationalen Politik nicht nur die Staaten, sondern auch die gesellschaftlichen Gruppen innerhalb der Staaten von Bedeutung sind. Dabei beeinflussen zwar die innere Verfaßtheit eines Staates sowie die Interessenkonstellationen der gesellschaftlichen Gruppen innerhalb dieses Staates seine Außenpolitik, trotzdem kann das Agieren eines Staates im Bereich der internationalen Politik nicht ausschließlich auf solche inneren Ursachen zurückgeführt werden. Darüber hinaus basiert der Institutionalismus auf der rational-choice-Theorie, die davon ausgeht, daß die Akteure der internationalen Politik verschiedene Handlungsoptionen im Lichte ihrer Interessen rational bewerten, um schließlich die Handlung auszuwählen, die ihren Interessen am meisten entspricht. Dadurch wird die Anarchie im internationalen System den Anhängern des Institutionalismus zufolge in zunehmendem Ausmaß von den Interdependenzen zwischen den einzelnen Staaten und Gesellschaften begrenzt. Die transnationalen Interdependenzen bewirken ein gesteigertes Kooperationsinteresse der Akteure, was zur Bildung internationaler Institutionen führt. Die Institutionen entwickeln eine Eigendynamik, durch die sie das Verhalten der Staaten beeinflussen.

Die zentrale Hypothese des (Neo-)Institutionalismus ist daher, daß die internationale Politik durch die in internationalen Institutionen verankerten Normen bestimmt wird. Daher konzentriert sich der (Neo-)Institutionalismus insbesondere auf die Fragen, unter welchen Umständen internationale Institutionen zustandekommen, wie sie auf die internationale und die Innenpolitik der beteiligten Staaten wirken und wie sie konstruiert sein müssen, um Wirksamkeit zu entfalten.

Einen anderen Akzent setzt die Theorie des Liberalismus in den internationalen Beziehungen. Im Gegensatz zum Realismus und Institutionalismus richtet sich der Erklärungsschwerpunkt des Liberalismus auf subsystemische Faktoren, d.h. „for liberals the configuration of state preferences matters most in word politics – not, as realists argue, the configuration of capabilities and not, as institutionalists maintain, the configuration of information and institutions“.

Die zentralen Akteure sind nach Ansicht der liberalen Theorie Individuen und gesellschaftliche Gruppen, die bestimmte Präferenzen haben, entsprechend denen sie ihre materiellen und ideellen Interessen verfolgen. Staaten sind die Form der territorialen Interessenorganisation, deshalb findet das für die internationalen Beziehungen relevante Geschehen innerhalb dieser Staaten statt. Welche Interessen ein Staat wie gegenüber anderen Staaten vertritt, hängt von seiner inneren Verfaßtheit ab. Dabei ist jeder Staat prinzipiell frei, sein Handeln im internationalen System zu gestalten, sein Handeln ist nicht durch das internationale System festgelegt, sondern wird in erster Linie durch innerstaatliche Faktoren bestimmt. Die Übergänge zwischen liberalen und institutionalistischen Ansätzen sind fließend, so daß diese Theorien gelegentlich auch als „liberaler Institutionalismus“ o.ä. zusammenfasst werden.

Mit Blick auf die Nationale Sicherheitsstrategie können wir trotz der Dominanz realistischer und neorealistischer Ansätze auch Einflüsse erkennen, die an diese institutionalistischen und liberalen Ansätze erinnern. Dabei ist zunächst das Argument von den „allgemeingültigen Werten“ von zentraler Bedeutung, das sowohl innerhalb der NSS als auch in den begleitenden Publikationen von Condoleezza Rice, Philip Zelikow und anderen oft gebraucht wird.

Bereits in der Einleitung des Dokuments betont US-Präsident George W. Bush die hinter der Sicherheitsstrategie stehenden (ideologischen) Prämissen, an denen sich die Politik der Vereinigten Staaten orientieren soll und definiert die allgemeingültigen Werte, deren Durchsetzung sich die USA verschrieben haben:

„Die großen Auseinandersetzungen des 20. Jahrhunderts zwischen Freiheit und Totalitarismus endeten mit einem deutlichen Sieg für die freiheitlichen Kräfte und einem einzigen nachhaltigen Modell für nationalen Erfolg: Freiheit, Demokratie und freies Unternehmertum. Im 21. Jahrhundert werden nur diejenigen Nationen das Potential ihrer Bürger freisetzen und zukünftigen Wohlstand sichern können, die sich dem Schutz grundlegender Menschenrechte und der Gewährleistung politischer und wirtschaftlicher Freiheit verpflichtet haben. Menschen auf der ganzen Welt wollen das Recht der freien Rede, ihre Regierung wählen können, ihre religiöse Überzeugung leben und ihre Kinder erziehen – seien es nun Jungen oder Mädchen –, Eigentum besitzen und die Früchte ihrer Arbeit genießen. Diese Werte der Freiheit sind für alle Menschen und in jeder Gesellschaft richtig und wahr, und die Pflicht, diese Werte gegen Feinde zu verteidigen, ist die gemeinsame Aufgabe aller freiheitsliebenden Menschen überall auf der Welt und zu allen Zeiten.“

Diese Betonung umfassender Werte können wir als idealistisch verstehen. Kritiker der NSS wie Charles Knight vom Project on Defense Alternatives sehen hierin jedoch keinen Widerspruch zur realistischen Grundstruktur des Dokuments:

„In the end this document reflects a Hobbesian assumption that ‚might makes right‘ wrapped in a sort of right-wing idealism about forcefully leading the world toward the rewards of ‚freedom‘. It reflects a return to the notions of classical realism; in particular the emphasis on the centrality of power politics. It represents a move away from the more nuanced and complex structures of neorealism that have been influential in American international relations thought for the past thirty years or more.“

Joachim Krause. Jan Irienkaeuser und Benjamin Schreer gehen in ihrem Aufsatz „Wohin gehen die USA? Die neue Nationale Sicherheitsstrategie der Bush-Administration“ ebenfalls vom Einfluß unterschiedlicher Theorienansätze in der NSS aus. Sie erkennen eine „neue Form des sicherheitspolitischen Realismus“, die von einem „klassischen ökonomischen Liberalismus im Sinne von Adam Smith“ im Bereich der Wirtschaftspolitik sowie von einem „klassischen republikanischen Liberalismus im Sinne von Immanuel Kant“ bei der weltweiten Druchsetzung von „Demokratie und Menschenrechten“ begleitet werden. Außerdem sehen sie einen „neuen Institutionalismus“, der durch das Ziel einer Anpassung des bestehenden internationalen Kooperationssystems geprägt sei.

Auch führende Vertreter der US-Administration bemühen sich darum, die institutionalistischen Aspekte in dem Dokument hervorzuheben. So weist Colin L. Powell in der Zeitschrift „Foreign Affairs“ unter der Überschrift „A Strategy of Partnership“ die Ansicht zurück, die – an den Realismus erinnernde – präemptive/präventive Strategie sei das zentrale Element der NSS. Vielmehr sei das Kernstück der Nationalen Sicherheitsstrategie die Einbindung der USA in internationale Allianzen:

„Above all, the presideny’s strategy is one of partnerships that strongly affirms the vital role of NATO and other U.S. alliances — including the UN. (…) Partnership is the watchword of U.S. strategy in this administration. Partnership is not about deferring to others; it is about working with them. Beyond upholding the partnerships, we have inherited, the president seeks new ones to deal with new challenges.“

Wenn eine Prämisse des Institutionalismus jedoch ist, daß die internationale Politik durch die internationalen Institutionen bestimmt wird, so müssen wir feststellen, daß die US-Strategie dieser Vorgabe nicht folgt. Vielmehr beanspruchen die USA, die Ziele und Formen ihrer Aktivitäten alleine zu bestimmen, um anschließend für diese unilateral festgelegte Politik internationale Unterstützung einzuwerben. Auch Colin Powell spricht dies in seinem Artikel offen aus:

„Beyond partnership comes principle. The president’s strategy is rootes, above all, in the promotion of freedom and dignity worldwide. (…) We stand by this values now and always. They are the values served by the partnerships that we build and nurture.“

Wir können deshalb feststellen, daß trotz liberaler und institutionalistischer Ansätze in der NSS diese gegenüber den realistischen Prämissen in den Hintergrund treten. Eine wirkliche Akzeptanz der internationalen Institutionen durch die US-Administration geht aus der NSS ebensowenig hervor wie aus der Sekundärliteratur. Vielmehr handelt es sich um eine Funktionalisierung der internationalen Institutionen zugunsten der realistischen Losung einer „balance of power that favors freedom“: „Die Kooperation großer Mächte bedeutet auch eine große Chance für die multilateralen Organisationen wie die Vereinten Nationen, die NATO und die Welthandelsorganisation, ihren Wert unter Beweis zu stellen.“

3. (Neo-)Marxismus

Der Nationalen Sicherheitsstrategie oder der US-Administration einen marxistischen Einfluß zu unterstellen, wäre sicherlich gewagt. Ich möchte hier allerdings zumindest ansatzweise untersuchen, wie sich die in der NSS dargelegten Positionen unter einem marxistischen Blickwinkel darstellen.

Dabei ergibt sich zunächst die Schwierigkeit, daß Karl Marx (1818-1883) selbst keine Theorie der internationalen Politik entwickelt hat bzw. entwickeln konnte. Er ging nicht davon aus, daß der Kapitalismus noch mehr als 150 Jahre nach dem Erscheinen seiner grundlegenden Werke das weltweit vorherrschende Gesellschaftssystem sein würde. Trotzdem finden sich bereits in den von ihm und Friedrich Engels (1820-1895) verfaßten Werken überraschend aktuelle Hinweise auf die Funktionsweise der internationalen Beziehungen, die sogar schon die heutige Globalisierung vorwegzunehmen scheinen. So finden wir in dem von Marx und Engels verfaßten „Manifest der Kommunistischen Partei“ die folgenden Aussagen:

„Das Bedürfnis nach einem stets ausgedehnteren Absatz für ihre Produkte jagt die Bourgeoisie über die ganze Erdkugel. Überall muß sie sich einnisten, überall anbauen, überall Verbindungen herstellen.

Die Bourgeoisie hat durch ihre Exploitation des Weltmarkts die Produktion und Konsumption aller Länder kosmopolitisch gestaltet. Sie hat zum großen Bedauern der Reaktionäre den nationalen Boden der Industrie unter den Füßen weggezogen. Die uralten nationalen Industrien sind vernichtet worden und werden noch täglich vernichtet. Sie werden verdrängt durch neue Industrien, deren Einführung eine Lebensfrage für alle zivilisierten Nationen wird, durch Industrien, die nicht mehr einheimische Rohstoffe, sondern den entlegensten Zonen angehörige Rohstoffe verarbeiten und deren Fabrikate nicht nur im Lande selbst, sondern in allen Weltteilen zugleich verbraucht werden.

An die Stelle der alten, durch Landeserzeugnisse befriedigten Bedürfnisse treten neue, welche die Produkte der entferntesten Länder und Klimate zu ihrer Befriedigung erheischen. An die Stelle der alten lokalen und nationalen Selbstgenügsamkeit und Abgeschlossenheit tritt ein allseitiger Verkehr, eine allseitige Abhängigkeit der Nationen voneinander.“

Trotzdem sind marxistische Analysen und Theorien der internationalen Politik natürlich von den Entwicklungen des 20. Jahrhunderts geprägt. Dabei haben sich die Erklärungsmuster der marxistischen Schule(n) deutlich diversifiziert. Bis 1989 verlief die Trennungslinie zwischen den verschiedenen (neo-)marxistischen Erklärungsansätzen in erster Linie zwischen den vom realsozialistischen Lager geprägten Analysen und unabhängigen marxistischen Ansätzen. Erstere Erklärungsmuster gelten seit dem Verschwinden der realsozialistischen Staaten als weitgehend diskreditiert, insbesondere dadurch, daß diese Ansätze gelegentlich weniger durch wissenschaftliche Untersuchungen als vielmehr durch unmittelbare außenpolitische Interessen der Sowjetunion und anderer Staaten beeinflusst wurden. Dadurch hat sich das Spektrum unabhängiger oder neo-marxistischer Ansätze heute auf der einen Seite weiter verbreitert, auf der anderen Seite sind besonders in Europa zahlreiche marxistische wissenschaftliche Einrichtungen und Publikationen in den vergangenen 15 Jahren verschwunden. Eine Folge davon ist, daß sich die Schwerpunkte marxistischer Wissenschaft teilweise in andere Weltregionen verlagert haben, vor allem in den asiatischen Raum – China, Vietnam – und nach Lateinamerika, wo neben den kubanischen Instituten auch in anderen Ländern neue wissenschaftliche Publikationen entstanden sind, die häufig von marxistischen Ansätzen ausgehen.

Gemein ist (neo-)marxistischen Theorieansätzen, daß sie Macht- und Herrschaftsverhältnisse in den Mittelpunkt der Analyse stellen. In diesem Punkt ähneln sie den Thesen des Realismus und Neorealismus, allerdingt fokussiert der (Neo-)Marxismus nicht in erster Linie auf die zwischenstaatlichen Verhältnisse, sondern konzentriert sich auf die ökonomischen Akteure.

Dabei finden wir im Marxismus drei Untersuchungsschwerpunkte, die in anderen Großtheorien nicht in gleichem Maße Beachtung finden. Dazu gehört in erster Linie die Bedeutung der materiellen Grundlagen in den Lebensverhältnissen der Menschen sowie die Wechselbeziehungen zwischen Politik und Ökonomie und die institutionellen Ausdrucksformen sozialer, politischer und ökonomischer Machtverhältnisse.

Eng mit den marxistischen Ansätzen verknüpft sind die Imperialismustheorien. „Unter Imperialismus versteht man gemeinhin, dass sich ein Staat unter Einsatz von militärischen, politischen und ökonomischen Mitteln Einfluss und Vorteile auf der internationalen Ebene verschafft. In den klassischen marxistischen Imperialismustheorien erhielt der Begriff jedoch noch eine spezifische Bedeutung: Lenin, Luxemburg u.a. versuchten zu zeigen, dass bestimmte Probleme der Kapitalverwertung, die in einer fortgeschrittenen Phase kapitalistischer Entwicklung unausweichlich seien, die Staaten zu einer imperialistischen Politik zwingen würden. Eine imperialistische Konkurrenz der am höchsten entwickelten kapitalistischen Staaten wurde daher als notwendiges und ‚letztes‘ Stadium kapitalistischer Entwicklung behauptet.“

Es würde an dieser Stelle zu weit führen und auch nicht dem Anliegen dieser Arbeit entsprechen, die einzelnen Subtheorien der marxistischen Schule detailliert zu untersuchen. Es geht mir an dieser Stelle eher generell um marxistisch geprägte Untersuchungen der US-amerikanischen Außen- und Sicherheitspolitik im Allgemeinen und der Nationalen Sicherheitsstrategie im Besonderen und hierbei vor allem um den dort analysierten Einfluß ökonomischer Faktoren auf diese Politik.

In der Tat mehren sich in den USA und international Stimmen, die einen (zu) großen Einfluß ökonomischer Interessen auf die Außen- und Sicherheitspolitik der USA feststellen und kritisieren. Hier ergeben sich Anknüpfungspunkte an marxistische Theorieansätze, selbst wenn sich die Verfasser dieser Kritiken meist nicht als Marxisten verstehen. Zu ihnen gehört zum Beispiel der ehemalige CIA-Agent Robert Baer, der nach seinem Ausscheiden aus dem US-Geheimdienst die engen Beziehungen zwischen der US-Administration und den herrschenden Kreisen Saudi-Arabiens untersucht und in erster Linie auf die engen Wirtschaftsbeziehungen zurückführt. Durch diese engen Wirtschaftsbeziehungen fördere und finanziere die US-Regierung selbst indirekt den islamistischen Terrorismus:

„Wir kommen einfach nicht um die Tatsache herum, dass das Haus Al Saud die Koranschulen einrichtet und unterhält, die die Gotteskrieger ausbilden, genau wie es die Wohlfahrtsorganisationen verwaltet, die die Gotteskrieger finanzieren. Es kanalisiert die Wut der Gotteskrieger und leitet sie gegen den Westen, um sie von der Fäulnis in seinem eigenen Innern wegzulenken. (…)

Vor den moralischen Folgen unserer Handlungen können wir vielleicht davonlaufen, nicht aber vor den ökonomischen. Wir blöken etwas von Demokratie und sprechen davon, dass wir uns eines Tages des ausländischen Öls entwöhnen, uns von ihm unabhängig machen werden; doch in der ganzen Geschichte der Abhängigkeit Amerikas von solchem Öl hat es nie einen einzigen aufrichtigen, energischen Versuch gegeben, den Erdölverbrauch in den USA dauerhaft zu reduzieren oder ernsthaft über alternative Brennstoffe nachzudenken. (…)

Ob es einem nun gefällt oder nicht – die USA und Saudi-Arabien sind an der Hüfte miteinander verbunden wie Siamesische Zwillinge. Die Zukunft der Saudis ist unsere Zukunft.“

Wir sind bereits im Abschnitt Liberalismus/Institutionalismus auf die von der US-Administration postulierten und auch von Baer angesprochenen „allgemeingültigen Werte“ eingegangen. Hier fällt auf, daß die US-Administration neben den tatsächlich völkerrechtlich anerkannten Menschenrechten ohne nähere Begründung das „freie Unternehmertum“ zu diesen überall gültigen und von den USA zu verteidigenden Werten zählen. Dabei wird nicht nur der allgemein anerkannte Katalog der Menschenrechte einseitig erweitert; es wird außerdem übersehen oder bewußt ignoriert, daß dieses Postulat des klassischen Kapitalismus eben nicht auf ungeteilte Akzeptanz stößt, sondern vielmehr auch in der westlichen Hemisphäre selbst kritisiert wird. Ganz zu schweigen von Staaten, die sich bewußt für einen tendenziell nicht-kapitalistischen Weg entschieden haben. Neben „klassischen“ Beispielen wie Kuba und Nordkorea, die von den USA schon aus diesem Grund in die Kategorie der „Schurkenstaaten“ eingefügt werden, betrifft dies neuerdings (wieder) eine wachsende Zahl von Staaten vor allem in Lateinamerika, die in mehr oder weniger großem Maße vom vor allem in den 90er Jahren dominierenden monetaristischen und neoliberalen Ansatz der „Selbstheilungskräfte des Marktes“ abrücken und zu staatlichen Interventionen zurückkehren. Insbesondere in Venezuela geht diese in starkem Maße an Keynes (1883-1946) erinnernde Wirtschaftspolitik mit einer zunehmend antikapitalistischen und antiimperialistischen Rhetorik einher.

Einer der bekanntesten und schärfsten Kritiker der US-amerikanischen Außenpolitik ist Noam Chomsky, der sich ansonsten vor allem als bedeutender Linguist einen Namen gemacht hat. Er hinterfragt die von den USA weltweit eingeforderte Demokratie, deren sichtbarster und deshalb am häufigsten eingeforderter Ausdruck freie Wahlen sind. Chomsky dazu:

„Bei Wahlen gilt die öffentliche Meinung dann als irrelevant, wenn sie den Forderungen der wohlhabenden Minderheit, der das Land gehört, widerspricht. Gerade jetzt gibt es dafür wieder hervorragende Beispiele.

Eine davon betrifft die internationale Wirtschaftsordnung – die sogenannten Handelsabkommen. Wie Umfragen zeigen, ist die Bevölkerung in ihrer Mehrheit ganz und gar gegen das, was da vor sich geht, aber auf die Wahlen hat das keinen Einfluß, weil die Machtzentren – die Minderheit der Wohlhabenden – sich darin einig sind, daß es gelte, einen bestimmten Typ von sozio-ökonomischer Ordnung durchzusetzen.“

In der Tat finden wir eine solche Zielstellung, die Förderung des Freihandels und die Einforderung von „Marktwirtschaft“ anstelle einer „Kommandowirtschaft“, an prominenter Stelle in der Nationalen Sicherheitsstrategie. Ein eigenes Kapitel ist den „Freien Märkten und Freihandel“ gewidmet, dessen erste Absätze bereits die ökonomischen Prämissen der US-Administration verdeutlichen:

„A strong world economy enhances our national security by advancing prosperity and freedom in the rest of the world. Economic growth supported by free trade and free markets creates new jobs and higher incomes. It allows people to lift their lives out of poverty, spurs economic and legal reform, and the fight against corruption, and it reinforces the habits of liberty.

We will promote economic growth and economic freedom beyond America’s shores. All governments are responsible for creating their own economic policies and responding to their own economic challenges.We will use our economic engagement with other countries to underscore the benefits of policies that generate higher productivity and sustained economic growth…“

Die enge Verknüpfung der Wirtschaftspolitik mit der nationalen Sicherheit und damit letztlich auch mit der Verteidigungspolitik erinnert an die Grundannahmen marxistischer Imperialismustheorien. Als einflußreichste marxistische Imperialismusdefinition haben sich im 20. Jahrhundert die von W.I. Lenin (1870-1924) bereits 1916 in seiner Schrift „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“ entwickelten fünf grundlegenden Merkmale herausgestellt:

„1. Konzentration der Produktion und des Kapitals, die eine so hohe Entwicklungsstufe erreicht hat, daß sie Monopole schafft, die im Wirtschaftsleben die entscheidende Rolle spielen; 2. Verschmelzung des Bankkapitals mit dem Industriekapital und Entstehung einer Finanzoligarchie auf der Basis dieses ‚Finanzkapitals‘; 3. Der Kapitalexport, zum Unterschied vom Warenexport, gewinnt besonders wichtige Bedeutung; 4. Es bilden sich internationale monopolistische Kapitalistenverbände, die die Welt unter sich teilen, und 5. Die territoriale Aufteilung der Erde unter die kapitalistischen Großmächte ist beendet.“

Trotz anhaltender Kritik an dieser heute oft als veraltet oder unzureichend empfundenen Imperialismus-Definition können wir feststellen, daß sie nach wie vor einen Großteil der von marxistischen Analysen ausgehenden Kritiker der US-Außenpolitik beeinflußt. Zu ihnen gehört der an der Universität der Philippinen lehrende Soziologe Walden Bello, der von einem Ende der „klassischen Globalisierung“ und einem Übergang zu einer von den USA beherrschten neuen Form des Imperialismus ausgeht:

„Ich betrachte die Globalisierung der 80er und 90er tatsächlich als ein historisches Stück, das an seinem Ende angekommen ist. In den beiden Dekaden ging es darum, die regionalen Märkte zu einem Weltmarkt zusammenzufügen. Daran hatte die globale kapitalistische Klasse ein gemeinsames Interesse. Nun aber treibt dieses gemeinsame Projekt der Marktliberalisierung die Entwicklung nicht mehr voran. Jetzt bekommen wir eine neue Form der Globalisierung, die stärker von den einseitigen politischen Interessen der USA und den Interessen der US-Unternehmen bestimmt ist. (…) Die Interessen der USA haben jetzt Übergewicht. Das ist nicht mehr Globalisierung, wie wir sie kennen, sondern Unilateralismus. Daran ist die ganze Politik der Bush-Administration ausgerichtet. Bush hat sich aus der klassischen Globalisierung zurückgezogen. (…)Wir haben es mit dem Imperialismus der USA zu tun. Früher sagte man, der nationale Staat und seine Grenzen würden mehr und mehr verschwinden. Seit dem 11. September erleben wir das Gegenteil.“

Vom marxistischen Ansatz ausgehend können wir deshalb die Nationale Sicherheitsstrategie als ein programmatisches Dokument des US-Imperialismus bezeichnen.

3. Das Präventiv-/Präemptivkonzept


1. Begriffsklärung: Präventiv oder Präemptiv?

Der Bestandteil der Nationalen Sicherheitsstrategie, der in den USA wie auch international am kontroversesten diskutiert und als Kernbestandteil der NSS angesehen wird, ist das Konzept der Präventivstrategie.

Wir müssen zunächst feststellen, dass es in der internationalen Debatte eine große Unsicherheit über die Definition der Begriffe „präventiv“ und „präemptiv“ gibt. Sie werden in unterschiedlichen Debattenbeiträgen durchaus gegensätzlich definiert. In der NSS wird die neue Strategie mit dem Begriff „präemptiv“ definiert, der entscheidende Passus in dem Dokument lautet:

„Given the goals of rogue states and terrorists, the United States can no longer solely rely on a reactive posture as we have in the past. The inability to deter a potential attacker, he immediacy of today’s threats, and the magnitude of potential harm that could be caused by our adversaries’ choice of weapons, do not permit that option. We cannot let ur enemies strike first. (…) The United States has long maintaines the option of preemptive actions to counter a sufficient threat to our national security. The greater the threat, the greater the risk of inaction – and the more compelling the case for taking anticipatory action to defend ourseleves, even if uncertainty remains as to the time and place of the enemy’s attack. To forestall or prevent such hostile acts by our adversaries the United States will, if necessary, act preemptively.“

Entscheidend ist hierbei die Aussage, „präemptiv“ handeln zu wollen, um einer „ausreichenden Bedrohung“ zu begegnen, selbst wenn „Ort und Zeit des feindlichen Angriffs unsicher“ sind.

Volker Kröning weist auf die dieser Begriffsbesetzung widersprechenden Definitionen der Begriffe „präemptiv“ und „präventiv“ hin, wie sie bereits aus dem offiziellen Dictionary of Military Terms des US-Verteidigungsministeriums hervorgehen. Dieses Standardwerk definiert den Begriff „preemption“ als „an attack initiated on the basis of incontrovertible evidence that an enemy attack is imminent.“ Es muß also unbestritten offensichtlich sein, daß ein feindlicher Angriff ganz unmittelbar bevorsteht. Wenn „Ort und Zeit“ eines feindlichen Angriffs noch nicht erkennbar sind, ist diese Bedingung also nicht gegeben. Wir können also feststellen, dass der Begriff „preemptive“ in der NSS anders benutzt wird, als er vom Verteidigungsministerium definiert wird. Statt dessen wird in der NSS „preemptive“ in der Form benutzt, wie das Verteidigungsministerium den Begriff „prevention“ definiert: „A preventive war is ‚initiated in the belief that military conflict, while not imminent, is inevitable, and that to delay would involve greater risk.“

Demgegenüber teilen Krause, Irienkaeuser und Schreer in ihrem bereits oben zitierten Aufsatz die in der NSS geprägte Begriffsdefinition: „Unter Prävention werden militärische Maßnahmen verstanden, die einer absehbaren, unmittelbar drohenden Gefahr entgegenwirken sollen, unter Präemption werden militärische Maßnahmen gegen eine vermutete oder erst in der Zukunft auftretende Bedrohung gefasst.“

Zur weiteren Verwirrung trägt außerdem bei, dass hochrangige Repräsentanten der Bush-Administration die Begriffe „präemptiv“ und „präemptiv“ sogar synonym verwenden. So erklärt Condoleezza Rice: „Das Präventive ist kein neues Konzept. Es hat nie eine moralische oder gesetzliche Verpflichtung gegeben, darauf zu warten, angegriffen zu werden, bevor man sich existenziellen Bedrohungen entgegenstellen kann.“

Da sich jedoch in der internationalen Diskussion für die neue Konzeption der US-Administration in der NSS der Begriff „Präventivkriegstrategie“ eingebürgert hat, werde ich im Folgenden, sofern nicht auf eine anderslautende Definition verwiesen wird, die Begriff im traditionellen und nicht im umgedeuteten Sinn verwenden. Das bedeutet, ich gehe davon aus, dass präemptiv das Zuvorkommen gegenüber einer konkreten, unmittelbaren Bedrohung ist während präventiv das Reagieren auf eine vermutete, noch nicht konkretisierte Bedrohung meint.

Was ist der Hintergrund der Begriffsverwirrung bzw. der Begriffsumdefinition durch die NSS? Meines Erachtens wird das Ziel verfolgt, durch die Benutzung eines Begriffs, der in der Vergangenheit für eine völkerrechtlich akzeptierte Handlungsweise stand, die Fragwürdigkeit der neuen Konzeption vor dem Hintergrund internationaler Normen zu verdecken. So relativiert Zelikow die Bedeutung der Neukonzeption der NSS in diesem Bereich, es handele sich gar nicht um etwas Neues, sondern sei lediglich die „Anpassung der strategischen Militärdoktrin des Kalten Krieges an die Bedingungen des 21. Jahrhunderts“. Zelikow argumentiert für die Berechtigung der Präventivstrategie mit einer „ununterbrochenen Folge von Bedrohung und Verwundbarkeit“, der sich die USA gegenüber sähen: „Je bedrohlicher der Zugriff eines Feindes auf Massenvernichtungswaffen wird, desto weniger ist er für einen militärischen Eingriff anfällig“.

Doch trotz solcher Begründungen ist m.E. der Widerspruch der Präventivkriegskonzeption zu den etablierten Normen des Völkerrechts nicht zu übersehen.

2. Präventivstrategie und Völkerrecht

Unter Völkerrecht verstehen wir die „Gesamtheit der Normen, die die Beziehungen zwischen Staaten regeln. Das Völkerrecht beruht einmal auf einem stark von europäischem Denken beeinflussten Gewohnheitsrecht und zum anderen auf Vereinbarungen, die zwischen souveränen Staaten geschlossen werden.“

Als das wohl bedeutendste und grundlegendste Dokument von völkerrechtlicher Bedeutung können wir die Charta der Vereinten Nationen (UNO) ansehen. Aufgabe dieses „Grundgesetzes“ der UNO war und ist die Ächtung des Krieges zwischen den Staaten. So heißt es im Artikel 2 der Charta u.a.:

„3. Alle Mitglieder legen ihre internationalen Streitigkeiten durch friedliche Mittel so bei, dass der Weltfriede, die internationale Sicherheit und die Gerechtigkeit nicht gefährdet werden.

4. Alle Mitglieder unterlassen in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt.“

Zugleich gesteht die UNO-Charta aber den einzelnen Staaten ein Recht auf „individuelle oder kollektive Selbstverteidigung“ zu. Auf dieses Recht berufen sich die USA sowohl bei der Präventivkriegstrategie der NSS als auch im Zusammenhang mit den Kriegen der jüngsten Vergangenheit. Insbesondere der Angriff auf Afghanistan Ende 2001 und die nachfolgende Besatzung wurden nach den Anschlägen vom 11. September 2001 mit diesem Selbstverteidigungsrecht gerechtfertigt. Zu Unrecht, wenn wir uns den entsprechenden Passus in der UN-Charta, den Artikel 51, ansehen:

„Diese Charta beeinträchtigt im Falle eines bewaffneten Angriffs gegen ein Mitglied der Vereinten Nationen keineswegs das naturgegebene Recht zur individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung, bis der Sicherheitsrat die zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen getroffen hat. Maßnahmen, die ein Mitglied in Ausübung dieses Selbstverteidigungsrechts trifft, sind dem Sicherheitsrat sofort anzuzeigen; sie berühren in keiner Weise dessen auf dieser Charta beruhende Befugnis und Pflicht, jederzeit die Maßnahmen zu treffen, die er zur Wahrung oder Wiederherstellung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit für erforderlich hält.“

Entsprechend dieser Definition hätten die USA also, um beim Beispiel 11. September zu bleiben, lediglich den terroristischen Angriff abwehren und weitere Anschläge verhindern dürfen. Ein Recht darauf, ein anderes Land zu besetzen lässt sich aus der UNO-Charta nicht ableiten, selbst wenn die Machthaber dieses Landes hinter den Anschlägen stecken.

Doch in der NSS wird das Konzept der Selbstverteidigung weiter gefasst und im Sinne der Präventivstrategie ausgeweitet:

„We will disrupt and destroy terrorist organizations by: (…) defending the United States, the American people, and our interests at home and abroad by identifying and destroying the threat before it reaches our borders. While the United States will constantly strive to enlist the support of the international community, we will not hesitate to act alone, if necessary, to exercise our right of self-defense by acting preemptively against such terrorists, to prevent them from doing harm against our people and our country…“

Noch deutlicher wird die Diskrepanz zwischen den völkerrechtlichen Normen und der in der NSS festgelegten Präventivstrategie mit Blick auf den Krieg gegen den Irak im Jahr 2003, der von den USA und deren Verbündeten unter Hinweis auf die Bedrohung des Weltfriedens durch die Massenvernichtungswaffen des Irak begründet wurde. Dabei wurden die Schwerpunkte in der Argumentation durchaus unterschiedlich gesetzt. Insbesondere Großbritannien war daran gelegen, eine unmittelbare Bedrohung durch den Irak zu behaupten, was u.a. durch die These geschah, die Massenvernichtungswaffen des Irak seien „innerhalb von 45 Minuten“ einsatzbereit.

In diesem Zusammenhang ist ein anderes Argumentationsmuster zur Verteidigung der US-Strategie die Berufung auf das Völkergewohnheitsrecht als integralem Bestandteil des Völkerrechts, neben den internationalen, bi- und multilateralen Abkommen. So geht zum Beispiel der Völkerrechtler Michael J. Glennon so weit zu behaupten, das Völkergewohnheitsrecht habe dazu geführt, daß es heute – vor allem nach dem Krieg gegen Jugoslawien – überhaupt kein Völkerrecht mehr gibt:

„Diese Regeln sind zusammengebrochen. ‚Rechtmäßig‘ und ‚unrechtmäßig‘ haben aufgehört, angemessene Begriffe für die Anwendung von Gewalt zu sein. (…) Die Vereinigten Staaten hatten alles Recht, welches sie brauchten, um den Irak anzugreifen – nicht, weil der Sicherheitsrat sie dazu ermächtigt hätte, sondern weil es kein Völkerrecht mehr gibt, welches das verbietet. Es war deshalb unmöglich, unrechtmäßig zu handeln.“

Auch wenn die meisten Völkerrechtler diese Argumentation nicht teilen, warnt zum Beispiel Norman Paech davor, sie zu ignorieren oder nicht ernst zu nehmen. Glennon weist auf den Jugoslawien-Krieg hin, der von Frankreich und Deutschland, Gegnern des Irak-Krieges, mitgetragen wurde. Er erinnert daran, dass auch dieser Krieg offen die UN-Charta verletzte, da diese „humanitäre Interventionen“ ebenso wenig kennt wie Präventivkriege. Durch diesen Krieg seien deshalb die Regeln der UNO-Charta obsolet geworden. Norman Paech folgt Glennon in der Einschätzung der Völkerrechtswidrigkeit des Jugoslawien-Krieges, ohne jedoch zur selben Schlussfolgerung hinsichtlich des Fortbestehens der völkerrechtlichen Normen zu gelangen: „Auch die Völkerrechtswidrigkeit der ‚humanitären Intervention‘ war bis zum Krieg gegen Jugoslawien nahezu einhellige Meinung. Das kann heute, nach drei Kriegen, deren mangelnde Legitimation nur mühsam mit humanitären Gründen zu retten versucht wurde, nicht mehr gesagt werden.“

Glennon findet durchaus Unterstützung. So verteidigen Krause, Irienkaeuser und Schreer die Präventivstrategie der NSS vor dem Hintergrund der neuen Herausforderungen für die nationale Sicherheit der USA:

„In der Hauptsache wird kritisiert, dass dieses Konzept dem Völkerrecht widerspreche, insbesondere dem in der Charter der Vereinten Nationen ausdrücklich geschützten Prinzip der staatlichen Souveränität. (…) Diese Argumente sind schwerwiegend und bedürfen der sorgfältigen Prüfung. Sie werden allerdings teilweise dadurch relativiert, dass ihre Vertreter das Konzept der Prävention nicht im größeren Kontext sehen oder sehen wollen. Die NSS grenzt die Option militärischer Präventivschläge nur auf Fälle der Bedrohung durch Terroristen und Schurkenstaaten ein – Prävention und Präemption sind die Ausnahme, nicht die Regel. Zudem stellt sich die Frage, was denn zu tun wäre, wenn es aufgrund der veränderten Bedrohungslage keine andere Option gibt? Die Option militärischer Präemption gegen Schurkenstaaten trägt immerhin der Erkenntnis Rechnung dass diese nicht durch die klassische Form der nuklearen Abschreckung vom Einsatz von Massenvernichtungswaffen abgebracht werden können. Der Terrorismus der Al Quaida sowie die hohe Risikobereitschaft von Diktatoren wie Kim Jong Il und Saddam Hussein bzw. ihre Bereitschaft, die eigene Bevölkerung für außenpolitische Abenteuer zu opfern, erfordern in der Tat die Abkehr von einer bloß reaktiven Abschreckungsstrategie. (…) Schließlich bleibt die Frage der völkerrechtlichen Legitimität. In der Tat ist das, was die Bush-Administration mit Blick auf präemptive Optionen plant, mit dem heutigen Völkerrecht nicht vereinbar, da es gegen Art. 2 der Charter der Vereinten Nationen verstößt. Man kann auf dieser Sachlage die US-Politik verurteilen. Angesichts der neuen Qualität der Herausforderungen wäre dies allerdings zu kurz gegriffen. Die nationale Sicherheitsstrategie der Bush-Administration sollte vielmehr Anlass zu einer kritischen Sichtung und gegebenenfalls einer Reform des Völkerrechts sein.“

Ist diese Argumentation stichhaltig? Meines Erachtens werden hier zunächst einmal nicht bewiesene Behauptungen aufgestellt oder übernommen, die dann als moralische Rechtfertigung für das Verlassen der völkerrechtlichen Normen bzw. für eine Neuformulierung internationaler Standards dienen. Dabei fällt zunächst die unkritische Übernahme des Begriffs „Schurkenstaat“ im gesamten Aufsatz auf. Wir haben uns an anderer Stelle bereits mit der Definition dieses Begriffs auseinandergesetzt. In diesem Zusammenhang ist außerdem festzuhalten, dass der Begriff „rogue state“ auch in den USA selbst umstritten ist. Er wurde Anfang der 90er Jahre während der Regierungszeitung von George Bush Sr. Eingeführt, allerdings durch die Clinton-Administration aufgegeben, während die Administration Bush Jr. sie reaktivierte. Es handelt sich bei diesem Begriff nicht um eine wissenschaftliche Kategorie oder eine „wertfrei“ definierbare Methode zur Charakterisierung des einen oder anderen Staatswesens, sondern in erster Linie um einen politischen Kampfbegriff, dessen Verwendung sich nicht anhand objektiver, aus dem Charakter der mit dem Begriff „Schurkenstaat“ belegten Länder ableitbaren Kriterien erkennen lässt. Für einen anderen Aufsatz habe ich die Bedingungen des „Schurkenstaates“ Kuba und des wichtigsten Verbündeten der USA in Südamerika, Kolumbien, verglichen. Nach einer Untersuchung beider Staaten entsprechend der Kategoerien, die von den USA als „typisch“ für einen Schurkenstaat angegeben werden – Beachtung der Menschenrechte, Aggressivität gegenüber den Nachbarn u.a. -, musste ich feststellen, dass Kolumbien im Sinne der „objektiven“ Kriterien für einen „Schurkenstaat“ eher in diese Kategorie fällt, als Kuba. Der entscheidende Unterschied zwischen beiden Staaten ist jedoch ihr Verhältnis zu den USA.

Eine weitere Auffälligkeit ist, dass die Einordnung eines Landes in die Kategorie der „Schurkenstaaten“ nicht dauerhaft sein muß. Der frühere „Muster-Schurke“ Libyen taucht heute in derartigen Listen kaum mehr auf, obwohl es dort weder eine Demokratisierung noch einen Machtwechsel gegeben hat. Im Gegenteil: erst kürzlich wurde dieser Staat durch einen offiziellen Besuch des britischen Premierministers Blair gewissermaßen wieder „in die Weltgemeinschaft aufgenommen“, wie es Presseberichte formulierten. Demgegenüber bekamen Staaten wie der Irak unter Saddam Hussein oder das Afghanistan der Taliban die Brandmarkung als „Schurkenstaat“ erst, als sich die jeweiligen Machthaber von den USA abwandten und ihre Handlungsweise begann, den Interessen der USA zuwiderzulaufen. Umgekehrt ist ein Staat wie Saudi-Arabien, das als einer der größten Menschenrechtsverletzter der nah- und mittelöstlichen Region und weltweit gilt, in den Augen der US-Administration kein „Schurkenstaat“. Im Gegenteil, Saudi-Arabien wird nicht einmal als eine mit den „terroristischen Netzwerken“ verknüpfte Nation im Sinne der NSS angesehen, obwohl der mutmaßliche Drahtzieher der Anschläge vom 11. September 2001, Osama Bin Laden, sowie fast alle der mutmaßlichen Todespiloten aus diesem Land stammen.

Daraus können wir schlussfolgern, dass der Begriff „Schurkenstaat“ eben keine wertfreie Kategorie ist, sondern eine von den USA willkürlich vergebene Bezeichnung für Staaten, die längerfristig keine guten Beziehungen zu den Vereinigten Staaten pflegen und/oder in denen die Regierung der USA einen „Regimewechsel“ wünscht. Eine unabhängige, „objektive“ Existenz haben „Schurkenstaaten“ also nicht.

Wenn dies aber so ist, dann ist die Grundprämisse der NSS, die von Krause, Irienkaeuser und Schreer akzeptiert wird, fragwürdig. Denn die NSS geht von „Schurkenstaaten“ als der – neben „terroristischen Netzwerken“ – größten Bedrohung für die nationale Sicherheit aus. Hier wird also zunächst eine „neue Gefahr“ konstruiert um anschließend mit Hinweis auf diese mit früher nicht vergleichbare Situation für die eigene Seite (und nur für sie) größere Handlungsspielräume einzufordern, bspw. durch eine „Reform“ des Völkerrechts, die dessen Abschaffung gleichkommt.

Wenn aber eine solche „Ausnahmesituation“, die ein Ignorieren oder Aufweichen traditioneller völkerrechtlicher Normen rechtfertigen würde, nicht vorhanden ist, folgt daraus ohne Wenn und Aber die Völkerrechtswidrigkeit der Präventivstrategie der NSS.

Die Bush-Administration ist sich dessen wohl bewusst. Führende Vertreter der US-Regierung bemühen sich deshalb, die Radikalität und Bedeutung der Präventivstrategie zu relativieren. So stellt Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice wie bereits oben angeführt die Präventivstrategie als etwas „nicht Neues“ und als Fortsetzung früherer Maßnahmen der USA dar. In diesem Zusammenhang erinnert sie an die Kuba-Krise von 1962 und die Korea-Krise von 1994. Anschließend schränkt sie die heutige Präventivstrategie auf eine Reihe von Punkten ein, die sie als Bedingung ihrer Anwendung ansieht. Die Bedingungen, die gegeben sein müßten, sind:

1. Zuvor müssen andere Wege ausgeschöpft werden
2. Die Präventivaktion darf nicht am Anfang einer Reihe von Aktivitäten stehen
3. Die Bedrohung muß sehr groß sein
4. Das Risiko zu warten, muß sehr viel größer sein, als das Risiko, abzuwarten

US-amerikanische Wissenschaftler kritisieren Rice jedoch, da sie in ihrem Aufsatz keine konkreten Anhaltspunkte nennt, wann die Präventivstrategie angewandt werden kann. So schreibt Eric Alterman von Center for American Progress:

„In other words, Rice‘s formulation tells us nothing about when to use force; when to do so unilaterally or multilaterally; and when to hold back. Nevermind. She is a Republican conservative and so she is deemed to be ‚credible‘ on national security regardless of whether she makes any sense.“

In der Tat stellen diese vier Punkte keine wirkliche Einschränkung der Präventivstrategie dar, wie beispielhaft an der Situation vor Beginn des US-geführten Angriffs auf den Irak 2003 deutlich wurde. Es wurden damals nicht zweifelsfrei alle Wege ausgeschöpft, wie zum Beispiel die Forderung der meisten Sicherheitsratsmitglieder nach einer Verlängerung der Waffeninspektionen zeigte. Zwar stand der Angriff sicherlich nicht am Anfang einer Reihe von Aktivitäten, aber ob eine „sehr große“ Bedrohung gegeben war – zumindest für die USA, worauf es hier ankommt – darf angesichts der nach wie vor nicht aufgefundenen Massenvernichtungswaffen bezweifelt werden. Entsprechend dürfte auch das Risiko des Abwartens geringer gewesen sein, als das Risiko des Handelns, was durch die gegenwärtigen Probleme der Besatzungstruppen im Irak noch unterstrichen wird.

Die derzeit bekannt werdenden Informationen und Aussagen führender US-Repräsentanten, daß der Angriff auf den Irak unabhängig von der Existenz von Massenvernichtungswaffen geplant worden sei, unterstreicht außerdem die Willkürlichkeit, mit der vom Argument präventiven Handelns Gebrauch gemacht werden kann.

Abschließend teile ich deshalb die Einschätzung Norman Paechs: „Dass diese Strategie notwendig mit dem Völkerrecht des 21. Jahrhunderts in Konflikt geraten und ihm unter dem Schlachtruf seiner Fortentwicklung eine neue Moral mit Freiheits-, Menschenrechts- und Demokratiepathos überstülpen muss, ist in der Rhetorik der Kriegskoalition genügend deutlich geworden. Darin jedoch, wie Jürgen Habermas, eine ‚revolutionäre Umorientierung‘ in der amerikanischen Strategie zu entdecken, halte ich nicht für begründet, selbst wenn er hinzufügt, dass sie ‚sich aus den historischen Erfahrungen des vergangenen Jahrhunderts speist.‘ Sicher ist das hegemoniale Konzept Clintons (vgl. Krieg mit der NATO gegen Jugoslawien) anders als das unilaterale Konzept Bush’s im Krieg gegen den Terror. Beides sind m.E. jedoch strategische Varianten einer imperialistischen Mission, die weit zurückgeht bis ins 19. Jahrhundert.“