Zweierlei Maß

Eine rechtsextreme Internetseite verbreitet gezielt Falschmeldungen, legt dem Militär einen Staatsstreich nahe, verbreitet manipulierte Fotos und Leserkommentare, in denen offen zur Ermordung bekannter Politiker und Journalisten aufgerufen wird. Nun ist Venezuelas Präsident Hugo Chávez endlich der Kragen geplatzt. Am Sonnabend forderte er die Staatsanwaltschaft des Landes auf, Ermittlungen gegen die Internetseite »Noticiero Digital« einzuleiten. Konkreter Anlaß war eine von dieser Seite tagelang verbreitete Falschmeldung über die angebliche Ermordung des Ministers für öffentliche Arbeiten, Diosdado Cabello. Kurz darauf erklärte dasselbe Onlinemagazin den quicklebendigen Fernsehmoderator Mario Silva ebenfalls für tot.

Daß ausgerechnet Cabello und Silva zur Zielscheibe der Angriffe wurden, überrascht nicht. Diosdado Cabello wurde zu einer Symbolfigur der Bolivarischen Revolution in Venezuela, als der damalige Vizepräsident am 13. April 2002 nach dem Scheitern des Staatsstreichs gegen Chávez als Übergangspräsident des Landes vereidigt wurde und wenige Stunden später das Amt wieder an den zurückgekehrten Staatschef abgab. Mario Silva polemisiert in seiner Fernsehsendung »La Hojilla« scharf gegen die Opposition und deckt regelmäßig Lügen der kommerziellen Fernsehsender auf. Beides macht sie zu bevorzugten Haßobjekten der venezolanischen Rechten.

Daß Chávez den Aufruf zur Ermordung seiner beiden Mitstreiter – um nichts anderes handelt es sich letztlich – nicht schweigend hingenommen hat, spricht für ihn. Zu kritisieren wäre höchstens, daß er erst jetzt reagiert hat, denn die Seite ist seit Jahren für ihre üble Hetze bekannt. Trotzdem fabrizierte die Agentur AFP daraus die Meldung, Chávez wolle »das Internet in seinem Land streng kontrollieren«, und klebte gleich noch der Nachsatz dran: »Zuvor waren bereits Radio- und Fernsehsender in dem südamerikanischen Land geschlossen worden.«

Tatsächlich hatte Chávez gesagt, das Internet dürfe »kein rechtsfreier Raum« sein und zitierte damit ausdrücklich niemand anderes als Bundeskanzlerin Angela Merkel. Diese hatte Ende Februar in ihrem Video-Podcast vor Risiken bei der Nutzung des Internets gewarnt: »Deshalb werden wir auch immer wieder dafür sorgen, daß das Löschen von solchen Seiten möglich sein wird, um Menschen vor Gefahren zu schützen.«

Wenn ein linker Präsident einfordert, daß presserechtliche Verantwortlichkeit auch im Internet zu gelten habe, ist das Diktatur. Wenn die deutsche Kanzlerin dasselbe fordert, beweist sie damit Verantwortungsbewußtsein. Wenn in Venezuela eine faschistoide Seite (hoffentlich bald) geschlossen wird, die immer wieder Menschen zum Abschuß freigibt, dann ist das Zensur. Wenn die Dresdner Staatsanwaltschaft hingegen die Homepage gegen den Naziaufmarsch vom 13. Februar sperren läßt, ist das den »freien Stimmen der freien Welt« kaum eine Zeile wert.

Erschienen am 15. März 2010 in der Tageszeitung junge Welt