Zu hoch gepokert

Venezuela hat am vergangenen Donnerstag den Lateinamerika-Direktor von Human Rights Watch (HRW), José Miguel Vivanco, und seinen Stellvertreter Daniel Wilkinson des Landes verwiesen. Wie es in einer gemeinsamen Erklärung von Innenminister Tarek El Aissami und Außenminister Nicolás Maduro heißt, habe sich Vivanco »illegal in die inneren Angelegenheiten des Landes eingemischt«. Vivanco und Wilkinson sollen das Land noch am gleichen Abend (Ortszeit) verlassen haben.

Mit diesem Schritt reagierte die venezolanische Regierung auf die Veröffentlichung eines Dokuments, das Vivanco wenige Stunden zuvor in Caracas vorgestellt hatte. In dem 230 Seiten umfassenden Dokument unter dem Titel »Ein Jahrzehnt Chávez. Politische Intoleranz und vergebene Chancen für den Fortschritt der Menschenrechte in Venezuela« kritisiert die NGO mit Sitz in New York, daß die »wichtigen Erfolge« der Verfassung von 1999 zu einer »vergebenen Chance« geworden seien. In den zehn Jahren der Amtszeit von Hugo Chávez, der am 6. Dezember 1998 erstmals die Präsidentschaftswahlen in dem südamerikanischen Land gewonnen hatte, seien die demokratischen Institutionen »systematisch geschwächt« worden. Grundlegende Verfassungsgarantien seien der eigenen politischen Agenda geopfert worden, behauptet HRW in dem Report. Zwar kommt die Organisation nicht umhin, den Putsch gegen Chávez vom April 2002 als den schwersten Schlag gegen die venezolanische Demokratie anzuerkennen, fährt dann jedoch fort: »Leider hat die Chávez-Regierung ihn (den Putsch) ausgenutzt, um eine Politik zu rechtfertigen, die die Demokratie im Land untergraben hat«. Weiter heißt es in dem Papier, in Venezuela existiere keine unabhängige Justiz, daß freie Gewerschafswahlen verhindert worden seien, oppositionelle Medien unterdrückt würden und die Regierung eine Haltung »aggressiver Konfrontation gegen die Verteidiger der Menschenrechte und die Organisationen der Zivilgesellschaft« eingenommen habe.

Die heutige Human Rights Watch wurde 1978 mit stramm antikommunistischer Zielsetzung unter dem Namen »Helsinki Watch« gegründet, um, wie die Organisation selbst in einem Rückblick auf ihre Geschichte schreibt, bürgerliche Gruppen zu unterstützen, die »zunächst in Moskau und dann im ganzen Ostblock« eine »kleine, unterdrückte aber letztlich siegreiche Bewegung für die menschliche Freiheit« geschaffen hätten.

Die jetzige Veröffentlichung ist nicht der erste Angriff von HRW auf die venezolanische Regierung. So legte der auch diesmal wieder aktive Vivanco im Juni 2004, zwei Monate vor dem Referendum über eine vorzeitige Amtsenthebung des Präsidenten, einen Bericht vor, der sogar eine Intervention der Organisation Amerikanischer Staaten in Venezuela forderte. Der damalige Vizepräsident José Vicente Rangel reagierte damals mit dem Hinweis auf Verbindungen Vivancos zum chilenischen Geheimdienst, die dieser in den »ersten Momenten« der Pinochet-Diktatur gehabt habe.

Erschienen am 23. September 2008 in der Tageszeitung junge Welt