Wo Lenin schon zu Gast war

Erst mal laufen wir an dem Gebäude vorbei und finden die angegebene Adresse nicht. 37a Clerkenwell Green in London fällt dem Passanten nicht auf. Keine rote Fahne und keine Büste deuten von außen darauf hin, dass sich in dem grauen Haus mit der roten Tür eine der geschichtsträchtigsten Stätten der britischen Arbeiterbewegung befindet. Nur eine bescheidene Messingtafel an dem 1737 erbauten Gebäude weist darauf hin, dass sich hier die »Marx Memorial Library«, die Karl-Marx-Gedächtnisbibliothek, befindet. Daneben informiert eine Notiz auf Papier darüber, dass leider die Klingel defekt ist und man doch bitte klopfen möge. Doch Andrew Northall öffnet bereits die Tür und heißt uns willkommen. Er ist sichtlich stolz, an diesem historischen Ort arbeiten zu dürfen.

Ursprünglich beherbergte das Haus im 18. Jahrhundert die »Welsh Charity School«, eine Schule für Kinder aus armen Familien, die über Spenden wohlhabender Bürger finanziert wurde. Die bis 2009 in wechselnden Formen, an unterschiedlichen Orten und unter verschiedenen Namen existierende Bildungseinrichtung zog 1772 aus dem Gebäude aus, weil es für ihre Zwecke zu klein geworden war. Es beherbergte in den folgenden Jahrzehnten verschiedene kleine Geschäfte und Werkstätten sowie einen Pub und schließlich bis 1880 ein Café. 1892 wurde das Haus der Sitz des sozialdemokratischen Zeitungsverlags »Twentieth Century Press«, der hier das Organ der Sozialdemokratischen Föderation, Justice, herausgab und Werke von Marx und Engels sowie andere sozialistische Literatur publizierte.

Der wohl bekannteste Gast, der hier gearbeitet hat, war von April 1902 bis Mai 1903 während seines Londoner Exils Wladimir Iljitsch Lenin. Andrew führt uns in dessen altes Arbeitszimmer, das im Originalzustand belassen wurde. An dem wuchtigen Schreibtisch aus Holz redigierte der russische Revolutionär seine Iskra. Eingerahmt und hinter Glas ist eine Originalausgabe der Zeitung zu sehen. Rechts und links von dem Schreibtisch stehen dunkle, fast schwarze Bücherschränke. Ob sie alle wirklich noch dieselben wie zu Lenins Zeiten sind, vermag Andrew nicht zu sagen. Doch der Bodenbelag aus Linoleum dürfte, abgesehen von kleinen Stellen, die irgendwann ausgebessert wurden, noch weitgehend der sein, auf dem Lenin gegangen ist. Dann zeigt er uns einen alten, braunen Ledermantel, der an einem Ständer in einer Ecke des kleinen Büros hängt. Er soll Georgi Dimitroff gehört haben. Der spätere Generalsekretär der Kommunistischen Internationale war 1933 von den Nazis angeklagt worden, den Reichstag in Brand gesteckt zu haben. In dem von den Faschisten vor den Augen der Weltöffentlichkeit inszenierten Schauprozess wurde der Bulgare jedoch vom Angeklagten zum Ankläger und brachte den Hitlerfaschisten ihre erste Niederlage bei. Sie mussten Dimitroff freisprechen und ihn 1934 nach Moskau zurückkehren lassen. Wenige Jahre später soll der seinen gefütterten Ledermantel dem Generalsekretär der britischen KP, Harry Pollitt, gegeben haben, als dieser ohne warme Kleidung mitten im Winter in Moskau eintraf. Nach seinem Tod 1960 ging das Kleidungsstück an den ehemaligen Interbrigadisten und außenpolitischen Redakteur der kommunistischen Tageszeitung Morning Star, Sam Russell. Als dieser 2010 starb, vermachte seine Familie den weitgereisten Mantel der Marx Memorial Library. Es sei nicht hundertprozentig erwiesen, dass er tatsächlich Dimitroff gehört habe, räumt Andrew ein. Manche vermuten, der einstige Besitzer sei vielmehr Wjatscheslaw Molotow gewesen, der damalige Vorsitzende des Rates der Volkskommissare, also des Regierungschefs der Sowjetunion. »Aber einer von beiden war es«, ist sich Andrew sicher.

Antwort auf die Nazibarbarei

Marx selbst, der Namensgeber der Bibliothek, hielt sich wohl nie in dem Gebäude auf, wenn er es nicht aus reinem Zufall einmal betreten hat. »Aber er war sicherlich in den Pubs zu Gast, die es hier in der Umgebung gab«, vermutet Andrew. Tatsächlich fällt es beim Bummeln entlang der alten, gepflegten Häuser nicht schwer, sich den Bärtigen in seinem Gehrock vorzustellen, wie er vielleicht mit einem Buch in der Hand hier entlanggegangen ist und einen Pub ansteuerte. Der sah vermutlich auch nicht viel anders aus als heute »The City Pride«. Diese Kneipe an einer Straßenecke wirbt auf ihrer Tafel im Stil einer Stellenanzeige um »Trinker und Pizzaesser in Teil- oder Vollzeit«. Im nahegelegenen Park tummeln sich Eichhörnchen, an den Bäumen hängen merkwürdige Vogelhäuschen. Hinter der Grenze der Grünanlage steht eine altehrwürdige Kirche. Über eine seltsame Uhr, die wie an einem Arm zwischen zwei Fenstern aus dem Dachgeschoss eines Backsteinhauses herausragt, hat sich schon Marx wundern können – ausweislich der Jahreszahlen stammt sie aus dem Jahr 1875. Möglich, dass sie damals in die Fabrik eilenden Arbeitern mitteilen sollte, wieviel Zeit diese noch bis Dienstbeginn hatten.

Als Bibliothek dient 37a Clerkenwell Green erst seit 1933. Damals wollten alte Gewerkschafter und Sozialisten sowie Mitglieder der Kommunistischen und der Labour-Partei den 50. Jahrestag von Marx’ Tod nutzen, um in London eine Gedenkstätte für den Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus einzurichten. Das Haus hatte seit 1922 leer gestanden und wartete auf eine neue Bestimmung. Während noch diskutiert wurde, wie die geplante Gedenkstätte aussehen sollte, brannten in Deutschland die Bücher. Als Reaktion darauf beschlossen die Förderer, dass die Gründung einer Bibliothek die passende Antwort auf die Barbarei der Nazis sei und zugleich die beste Art, Marx zu ehren. Nicht nur Bücher wurden künftig hier gesammelt, abends wurde auch Bildung vermittelt – die Marx Memorial Library war eine Arbeiterschule, die Lehrgänge zum beispiel in Geschichte und politischer Ökonomie anbot.

Seither findet in 37a Clerkenwell Green wissenschaftliche Arbeit statt. Auch wenn Andrew und andere Mitarbeiter der Bibliothek Mitglieder der Kommunistischen Partei Britanniens sind, ist nicht die CPB, die sich als Nachfolgerin der 1920 gegründeten und 1991 aufgelösten KP Großbritanniens versteht, Träger des Hauses, sondern ein gemeinnütziger Verein. Das erleichtert auch Mitgliedern anderer linker Organisationen oder auch der Labour-Partei, die Einrichtung zu nutzen und zu unterstützen. Generell ist das Verhältnis zueinander offenbar entspannt. »Wir haben hier nicht so eine antikommunistische Ausgrenzung wie bei euch in Deutschland«, erzählt Andrew. Weil das Mehrheitswahlrecht die britische Demokratie jahrzehntelang auf ein Zweiparteiensystem beschränkte, riefen die Kommunisten praktisch immer zur Stimmabgabe für Labour auf, die 1900 als politischer Arm der Gewerkschaften und mehrerer sozialistischer Organisationen gegründet worden war. Obwohl diese Partei als »New Labour« heute einen neoliberalen Kurs fährt und unter Premierminister Anthony Blair den Krieg gegen den Irak unterstützte, sind wichtige Gewerkschaften noch immer kollektiv der Partei angeschlossen. Diese inserieren häufig auch in der kommunistischen Tageszeitung Morning Star, etwa zur Mobilisierung für zentrale Demonstrationen.

Katakomben als Archiv

Die kompletten Jahrgänge dieser Tageszeitung und ihres Vorgängers Daily Worker können in den Archiven der Marx Memorial Library eingesehen werden. Dabei fällt der Blick auf eine hinter Glas ausgestellte rote Fahne, auf die eine geballte Faust und die Jahreszahlen 1936 bis 1938 gestickt wurden. Dieses Banner erinnert an den Einsatz des Britischen Bataillons zur Verteidigung der Spanischen Republik im Krieg gegen die Franco-Faschisten und deren deutsche und italienische Unterstützer. Hergestellt wurde die Fahne von Frauen aus Barcelona, die damit den Interbrigadisten danken wollten, als diese 1938 in ihre Heimat zurückkehrten. Überreicht wurde das Banner den antifaschistischen Kämpfern während der Abschiedsparade in der katalanischen Metropole von der Parlamentsabgeordneten Dolores Ibárruri, der legendären »La Pasionaria«, die später im Exil an die Spitze der Kommunistischen Partei Spaniens aufstieg. Ihr berühmtes »No pasarán« – »Sie werden nicht durchkommen« – ging in die Geschichte ein und wird immer wieder aufgegriffen, etwa in den 80er Jahren bei der Verteidigung des sandinistischen Nicaraguas gegen die von den USA ausgehaltenen Contra-Banden oder heute in der kurdischen Stadt Kobani im Norden Syriens beim Kampf gegen die Verbrecher des »Islamischen Staats«. Einer der Kommandeure des Britischen Bataillons der Internationalen Brigaden in Spanien, Bill Alexander, stand lange an der Spitze der Marx Memorial Library, die heute stolz erklärt, dass sie über die weltweit umfangreichste Sammlung von Material aus dem und über den Spanischen Bürgerkrieg verfügt.

Inzwischen wird der Platz allmählich knapp. Ihre weitverzweigten Kellergeschosse kann die Bibliothek nur sehr eingeschränkt nutzen, nachdem dort immer wieder Grundwasser eingebrochen ist und die Archive mit sozialistischen Zeitungen und revolutionären Flugblättern gefährdete. Inzwischen konnten immerhin einige Räume durch die Förderung des »Heritage Lottery Fund«, der mit Geldern der britischen Lottospieler archäologische und kulturelle Projekte fördert, so hergerichtet werden, dass die Konservierung der wertvollen Dokumente gesichert ist. Nun sollen die Bestände noch katalogisiert und digitalisiert im Internet bereitgestellt werden – eine Aufgabe, die noch Jahre in Anspruch nehmen wird.

Das ganze Viertel Clerkenwell ist unterhöhlt. Die noch aus dem 15. Jahrhundert stammenden Katakomben unter den Häusern reichen kilometerweit, erzählt Andrew. Im 19. Jahrhundert wurden durch sie Angeklagte aus dem Gefängnis in den Gerichtssaal gebracht, ungesehen von neugierigen Beobachtern und ohne Fluchtmöglichkeit. Viele von ihnen wurden anschließend nach Australien verschifft, das von den Briten damals als Gefangenenkolonie betrieben wurde. Während des Zweiten Weltkriegs wurden die Keller als Luftschutzbunker wiedereröffnet, um der Zivilbevölkerung Schutz vor den Luftangriffen der Deutschen zu bieten. Heute dienen die Katakomben gelegentlich Filmemachern als Kulisse, den meisten Touristen sind sie jedoch verschlossen.

Geöffnet ist dagegen der große Lesesaal in der Marx-Gedenkbibliothek. Dort hängt ein riesiges Gemälde, das an Werke der mexikanischen Wandmalerei erinnert. Der Künstler, Jack Hastings, hatte in dem lateinamerikanischen Land mit Diego Rivera und Frida Kahlo zusammengearbeitet, bevor er in London sein Werk schuf. Unter dem Titel »Die Arbeiter der Zukunft räumen das Chaos des Kapitalismus beiseite« sind dort neben einem im Stil eines Heiligen dargestellten Proleten mit freiem Oberkörper Größen der historischen Arbeiterbewegung abgebildet: Marx, Engels und Lenin, der Frühsozialist Robert Owen sowie William Morris, ein Mitbegründer der sozialistischen Bewegung in Großbritannien. Im Vordergrund sieht man Arbeiter aus den verschiedenen Epochen der britischen Geschichte, die gemeinsam die Trümmer von kapitalistischen Herrschaftsgebäuden wegräumen.
Internationalistische Kunst

Ein anderes Gemälde erinnert an den Spanischen Bürgerkrieg. Es zeigt das Leid der Zivilbevölkerung nach den faschistischen Luftangriffen, in der oberen linken Ecke aber auch eine dennoch optimistisch in die Zukunft schauende »La Pasionaria«. Im Zentrum des Bildes sind das Symbol der Internationalen Brigaden sowie die eben schon beschriebene Fahne des Britischen Bataillons zu sehen. Direkt darunter integriert sind eine Kopie von Pablo Picassos Meisterwerk »Guernica« sowie Text und Noten des Kampfliedes »The Jarama Valley«.

Kunst überrascht den Besucher in diesem Haus überall. Wer in der kleinen Küche einen Kaffee bereiten möchte, stößt dort nicht nur auf allerlei Kitsch aus vergangenen Jahrzehnten und Jahrhunderten, sondern auch auf ein fest installiertes, in Rot und Schwarz gehaltenes Schachbrett mit Figuren darauf und zwei Stühlen davor. Es handelt sich nicht um die Spielecke des Museums, sondern um eine Replik der Arbeit des russischen Künstlers Alexander Rodtschenko (1891–1956). Der stark vom Kubismus beeinflusste Maler, Grafiker, Fotograf und Architekt war ab 1920 in Moskau als Direktor des Museumsbüros im zuständigen Ministerium für die Reorganisation der Kunstschulen und Ausstellungen in Sowjetrussland verantwortlich.

Bevor wir das interessante Haus wieder verlassen, müssen wir noch mal wohin. Selbst auf dem Örtchen warten hier noch Überraschungen. Auch männlichen Besuchern sei empfohlen, sich mal einen Blick in die Damentoilette genehmigen zu lassen. Dort sind die Wände mit Zeitungsseiten tapeziert. Es handelt sich dabei durchgehend um alte Ausgaben der New Age, des Zentralorgans der Kommunistischen Partei Indiens. Über dem Spülkasten sind im Stil der frühen sowjetischen Avantgardekunst knallrot Hammer und Sichel zu sehen. In diesem Haus steckt eben jede Ecke voller Geschichte.

www.marx-memorial-library.org

Erschienen am 14. Februar 2015 in der Tageszeitung junge Welt