»Wir verteidigen unsere Revolution«

Gespräch mit Gustavo Rodríguez, Mitglied der venezolanischen Linkspartei Tupamaros und der Coordinadora Simón Bolívar im Stadtviertel 23 de Enero. Im freien Rundfunksender Al Son del 23 moderiert er eine wöchentliche Diskussionssendung.

Sie moderieren eine wöchentliche Sendung beim lokalen Rundfunksender Al Son del 23, im Stadtviertel 23 de Enero. An wen richtet sich dieses Programm?

Meine Sendung heißt »Aló 23, und sie gibt es inzwischen seit sieben Jahren, seitdem unsere Radiostation ihren Sendebetrieb aufgenommen hat. Der Sender soll der Gemeinde dienen, indem er Nachrichten, Informationen, Bildung und Kultur verbreitet. Letztlich ist er eine Konsequenz aus dem Putschversuch vom April 2002, als alle Fernsehsender, die in der Hand der faschistischen Rechten und der Konzerne waren, Zeichentrickfilme ausgestrahlt haben, während auf den Straßen das Volk massakriert wurde. Wir haben damals verstanden, wie notwendig es für die Menschen in unserem Barrio, in unserem Viertel, ist, ein eigenes Handwerkszeug in die Hand zu bekommen, damit sie nie wieder zum Schweigen gebracht werden können.

23 de Enero hat den Ruf, eines der kämpferischsten und widerständigsten Viertel ganz Venezuelas zu sein. Wie erleben Sie hier den derzeitigen Wahlkampf?

Dieser Wahlkampf ist, ebenso wie die vorangegangenen 14 Wahlkämpfe – denn die Welt muß wissen, daß Venezuela ein äußerst demokratisches Land ist, in dem das Volk zu jeder Angelegenheit befragt wird – für uns eine Fortsetzung der Kämpfe, die wir seit Jahrzehnten geführt haben für Gerechtigkeit und Demokratie. Wir gehören zu denen, die auch heute noch eine sozialistische Gesellschaft anstreben. Im 23 de Enero erlebst du viel Freude, die Menschen sind sehr solidarisch, sie teilen gerne.

Auch wenn alle seriösen Meinungsforschungsinstitute Venezuelas einen Sieg für Präsident Chávez voraussagen, ist mir in einer Analyse aufgefallen, derzufolge der Amtsinhaber zwar auch unter den Jungwählern die Mehrheit hat – aber mit deutlich knapperem Vorsprung als zum Beispiel unter den 35- bis 50jährigen. Geht der Revolution die Jugend verloren?

Diese Gefahr besteht immer, und es ist unsere Verantwortung, das zu verhindern. In der nächsten Wahlperiode müssen wir die Verbindungen mit den Jugendlichen verstärken. Aber vergessen wir nicht, daß dies eine sehr junge Revolution ist, und wir sind sehr weit vorangekommen. Vor allem, wenn wir daran denken, daß wir all dies auf friedlichem und demokratischem Weg erreicht haben. In den vergangenen 13 Jahren unter Präsident Chávez ist nie auf eine Demonstration der Studenten geschossen worden. In den 60er und 70er Jahren wurden demgegenüber Dutzende meiner Studienkollegen ermordet.

Derzeit kursieren in Venezuela unzählige Gerüchte über geheime Pläne der Opposition, die einen Wahlsieg von Hugo Chávez nicht anerkennen wolle, oder über Provokationen. Was passiert in Caracas am Sonntag nach der Schließung der Wahllokale?

Bevor der Nationale Wahlrat CNE die ersten offiziellen Ergebnisse bekanntgibt, wird zweifellos das Volk auf den Straßen sein. Wir müssen unsere Revolution verteidigen, denn wir sind davon überzeugt, daß wir keinen anderen Weg haben. Die Augen der Welt sind in diesem Augenblick auf Venezuela gerichtet, und das bedeutet für uns eine riesige Verantwortung. Wir werden auf den Straßen und Plätzen auf die ersten Zahlen des CNE warten, in vollem Vertrauen auf unser Wahlsystem, das gegen jeden Manipulationsversuch gepanzert ist. Wichtig ist, daß sich niemand etwa vormachen läßt, auch nicht in Deutschland: Ein Wahlbetrug ist in Venezuela unmöglich.

Danach, mit der Veröffentlichung des ersten Bulletins des CNE, werden wir der Welt den Sieg der Bolivarischen Revolution, des Präsidenten Chávez und des Volkes verkünden und feiern, daß wir den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft fortsetzen können. Nachdem 1990 schon das Ende der Geschichte verkündet wurde, war es gerade Venezuela, das die Banner des Sozialismus wieder erhoben hat.

Aber wir wissen natürlich auch, daß wir uns in einem Krieg der vierten Generation befinden und daß die Finger des Imperiums nicht erst seit gestern, sondern seit vielen Jahrzehnten tief in unseren Ländern stecken. Noch immer kontrolliert die Bourgeoisie in unserem Land 75 bis 80 Prozent der Medien. Es wäre tragisch, wenn nach einem Sieg des Präsidenten Chávez diese Kräfte versuchen, Unruhen anzuzetteln und das Ergebnis nicht anzuerkennen, denn wir sind bereit, unsere Revolution mit allen Mitteln zu verteidigen.

Erschienen am 5. Oktober 2012 in der Tageszeitung junge Welt